militärische Rückwärtsentwicklung in der Spätantike?
#1
Ein aus meiner Sicht sehr spannendes Thema ist die militärtechnische Entwicklung in Europa während der Spätantike. Während seines Aufstiegs zur Großmacht bediente sich das römische Reich ihrer schweren, aber dennoch flexibelen Infanterie und fand auf jede gegnerische Taktik eine Antwort. Noch in den Jahren 300-400 stellte das römische Reich seine Streitkräfte auf einen mit Reitern geführten Bewegungskrieg um. Entsprechende Taktiken wurden von den Sarmaten und Pathern übernommen. Die sogenannten Comitatenses waren erfolgreiche mobile Eingreifverbände und wurden mit den meisten barbarischen Einfällen fertig. Doch ab 400 übernahmen zunehmend barbarische Föderaten die militärische Führung innerhalb des Reiches, welches daraus immer mehr in kleine Reiche zerfiel, die entweder von fremden Eroberern oder internen Kriegsherren geführt wurden. Die Alphabetisierung, das Verkehrswesen und die Künste verfielen daraufhin stark. Die römische Kultur verschwand in einem ständigen Zustand von Unsicherheit und unter dem Einfluss fremder Einwanderer.

Trotz unzähliger Bücher und Erklärungsversuche konnte ich jedoch nie herausfinden, ob es nun die Barbaren waren, die ihre militärischen Fähigkeiten an die des Imperiums anpassten und so ein Übergewicht bekamen. Oder ob das militärische Know-How der Römer verfiel, und den Föderaten und Eindringlingen auf die Weise in die Karten spielte. Das letzte will ich eigentlich nicht glauben. Doch der technische-taktische Stand den mittel-west und südeuropäischeTrupppen nach dem Untergang hatten, war kaum noch mit dem des römischen Reiches vergleichbar. Gern lass ich mich aber durch gute Quellen vom Gegenteil überzeugen.

Ich hoffe ich erhalte zahlreiche Antworten auf diesen Post -
lg - blasrohr
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#2
Meiner Ansicht nach war der militärische Niedergang des (west-) römischen Militär in der Spätantike primär eine Folge der wirtschaftlichen Probleme des weströmischen Reiches. Man konnte sich das Militär das notwendig gewesen wäre schlicht und einfach nicht mehr leisten und fand aus einem Bündel von Faktoren nicht zu einer anderen Form der Verteidigung,

da diese den Zerfall des Reiches in viele Einzelstaaten bedeutet hätte (was zeitweilig dann trotzdem als zwingende Folge geschah (diverse Sonderreiche) und dann im Endeffekt mit den "Barbaren"reichen auf römischen Boden seine Fortsetzung fand. Zwischen der Krisenzeit in der sich die Sonderrreiche bildeten und dem Untergang lag aber noch mal eine gewisse Phase der Restauration, in der die Zentralmacht die Sonderreiche zurück erobern konnte.

Dies geschah jedoch unter völliger Überforderung der Volkswirtschaft des Reiches, die sich davon nie mehr erholte. Das findet sich beispielsweise auch im archäologischen Bestand wieder, dass genau in dieser Zeit bestimmte Waren aus fernen Teilen des Reiches die lange Zeiträume verfügbar waren plötzlich aus dem Fundgut verschwinden - was bedeutet, dass der Handel im Reich zum Erliegen kam.

Auch Gruppierungen wie die Bagauden, die Circumcellionen u.v.m. zeigen klar den Zerfall der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Gemeinschaft auf, lange bevor das Reich dann staatlich unterging.

Genau genommen war auch der Verlust an Kultur und Zivilisation mit dem Zusammenbruch des Reiches noch nicht gegeben, er entwickelte sich dann erst primär - nachdem das Reich bereits zerfallen war, also nach dem Untergang des weströmischen Reiches. Die frühen "Barbaren"reiche waren demgegenüber noch weitgehend der Tradition und Zivilisation der Antike verbunden und das sogenannte "Dunkle Zeitalter" begann nicht mit dem Ende Westroms, sondern erst einige Zeit später in den Kriegen der Barbarenreiche untereinander, die wesentlich größere Zerstörungen zur Folge hatten, als alles was vorher statt gefunden hatte. Insbesondere werden beispielsweise die Zerstörungen die Chlodwig in Gallien verursachte völlig vernachlässigt, obwohl sie weit über dem lagen was vorher zugrunde ging.

Bereits die Heeresreformen zur Zeit von Diokletian überforderten den Staat erheblich - alles nach ihm zerstörte im Endeffekt auf Dauer die volkswirtschaftliche Substanz des Reiches und damit den Zusammenhalt der in ihm lebenden Menschen, welche die Zentralherrschaft zunehmend als Unerträglich fanden. Daher schlossen sich viele einfache römische Staatsangehörige den "Barbaren" bei ihren Einfällen an, bis hin zu kompletten geschlossenen Militäreinheiten.

Natürlich passten sich die "Barbaren" auch in gewisser Weise an die römische Kriegsführung an, dass war aber nicht der primäre Grund für die immer weiter um sich greifende militärische Schwäche der Römer in der Spätantike. Zudem war die Verwendung "barbarischer" Söldner gegen andere Barbaren ebenfalls nicht unbedingt schlecht, im Gegenteil lag darin sogar im Endeffekt die einzige Chance die das Reich hatte, nämlich die Germanen zu romanisieren. D

ie Romanisierung der Germanen fand anfangs auch noch in erheblichem Umfang statt. Die ins Reich einfallenden germanischen Großstämme waren eine direkte Folge dieser Romanisierung der Germanen wie auch der immensen Innergermanischen Veränderungen in dieser Zeit, über die wir leider so gut wie gar nichts wissen. Gerade die Zeit um 300 herum ist fast ein schwarzes Loch in Bezug auf die Inneren Entwicklungen Germaniens.

Selbst später noch hatte die römische Kultur ausreichend Anziehungskraft und Pufferstaaten wie das Reich der Westgoten im Gebiet des heutigen Rumänien begannen sich zu romanisieren, zu Christianisieren und bildeten einen Sicherheitsgürtel um das Reichsgebiet herum.

Noch zu diesem Zeitpunkt war das römische Militär relativ stark, zerstörte aber zum Erhalt dieser Stärke und der Zentralwirtschaft die Volkswirtschaft des Reiches in dem der "Wehretat" das Wirtschaftsgefüge des gesamten Mittelmeerraumes in eine Dauerrezesion zog.

Abgesehen von dem vor allem früher überstrapazierten Momentum der Hunnen führten dann aber wieder vor allem Innerrömische Machtkämpfe zum Zusammenbruch dieses Militärs dass dann aus finanziellen Gründen nie mehr in der alten Form aufgerichtet werden konnte. Sobald der Druck durch das Militär wegfiel, zerfiel die Gesellschaft des Reiches und schlossen sich die "Römer" den "Barbaren" in weiten Teilen Westroms völlig freiwillig an.

Noch in Straßburg 357 n Chr konnte das römische Militär die Germanen entscheidend schlagen, die Alemannen fielen damit als Bedrohung aus. Nicht lange danach geschah dann die Niederlage von Adrianopel gegen die Westgoten im Jahre 378 n Chr die meist als vernichtend eingestuft wird. Tatsächlich aber war sie nachrangig. Auch danach bestand das römische Militär noch in erheblicher Stärke.

Der wirkliche Schicksalsschlag war meiner Überzeugung nach die Schlacht am Frigidus 394 n Chr. Dort kämpften die Armeen West- und Ostroms im Bürgerkrieg gegeneinander und dort wurde der römische Kern der weströmischen Armee vernichtet. Bis zu diesem Jahr 394 n Chr sehe ich keine Schwäche des weströmischen Militär, sondern nur eine volkswirtschaftliche Überforderung des Reiches zum Unterhalt desselben. Nach dieser Schlacht fehlten dann aus dem letztgenanten Faktor heraus die Mittel, die Armee wieder zu errichten. Die Verluste waren vernichtend und vor allem anderen damit nachhaltig.

Die Schlacht am Frigidus führte direkt zum Zusammenbruch der Rheinfront, zum dauerhaften Verlust Britanniens, und zur völligen "Barbarisierung" und "Germanisierung" des weströmischen Militär. Vor Frigidus gab es noch eine weströmische Armee und romanisierten sich die ihr angeschlossenen Germanen. Nach Frigidus germanisierten sich die Söldnerhaufen, welche Westrom noch unter Vertrag nehmen konnte und eine weströmische Armee existierte nicht mehr. An ihre Stelle traten im Endeffekt "Warlords" welche mal mehr, mal weniger für den Zentralstaat, aber immer für ihren eigenen Gewinn kämpften. Figuren wie Aetius zeigen klar auf, wie stark die "Barbarisierung" selbst in der römischen Oberschicht nach Frigidus reichte. Aetius war mehr ein Hunne als ein Römer. Vor Frigidus war eine solche Karriere undenkbar gewesen und die Germanisierung der weströmischen Armeen in Wahrheit geringer als man annimmt.

Zitat:Doch der technische-taktische Stand den mittel-west und südeuropäischeTrupppen nach dem Untergang hatten, war kaum noch mit dem des römischen Reiches vergleichbar.

Der wesentliche Punkt ist also, dass der technisch-taktische Stand der Westeuropäischen Truppen bereits vor dem Untergang kaum noch mit dem des römischen Reiches vor Frigidus verglichen werden kann. Bereits VOR dem Untergang war das weströmische Militär im Endeffekt nicht mehr existent!

Und gerade dadurch gelang es den "Barbaren", dass Reichsgebiet unter sich aufzuteilen, unterstützt noch in erheblichem Umfang durch die Untertanen eben dieses Reiches, die sich in weiten Teilen den "Barbaren" anschlossen und diese unterstützten.
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#3
Ich muss dir Recht geben das die Schlacht am Frigidus die römischen Streitkräfte nachhaltig geschwächt haben. Zudem stand Westrom einer großen Zahl von Feinden gleichzeitig gegenüber, welche genauso kompromisslos angriffen, wie es die Römer am Anfang getan hatten. Rom hatte zuvor nie Gegner vor sich gehabt, die die inhärtenten inneren Konflikte und ständigen Bürgerkriege der Römer ausgenutzt hätten. Um 450 herum sah sich folgenden Gegnern gegenüber, welche stänig aggressiv ihre Gelgenheit wahrnahmen.
- Hunnen und ihre gewaltige Stammesförderation
-Vandalen und Alanen in Afrika
-Westgoten in Gallien
-Sueben und andere Stämme die Spanien festhielten
- Parther die Ostrom banden
Das waren nicht irgendwelche Stammesaufgebote, sondern schlachterfahrene Armeen mit viel Kavallerie und wie im Fall der Vandalen mit eignener Flotte. Es gab nach Jahrhunderten des Krieges keine taktischen Innovationen oder Manöver mehr, mit denen sich die Seiten überraschen konnten, außer vielleicht die besonderen Doppelreflexbögen der Hunnen. Zu dem Leidwesen der Römer trat, sobald ein Gegner besiegt war, gleich wieder ein neuer. So wurde wahrscheinlich auch das italische Kernland Westroms immer öfter verwüstet, geschwächt und schließlich von einfallenden Barbaren zersplittert und okkupiert.
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#4
blasrohr:

Bereits Gegner wie Hannibal hatten im Endeffekt das strategische Konzept, die Inneren Konflikte Roms ausnutzen, scheiterten aber am Mangel des Vorhandensseins derselben. Der Unterschied zu früher war also vor allem die deutlich erhöhte Anzahl der Inneren Konflikte in der Spätantike und diese hatten wiederum vor allem wirtschaftliche/volkswirtschaftliche Gründe. Die Reichsteile begannen mit dem absterbenden Handel zwischen ihnen auseinander zu fallen, die Vermögensschere zwischen Arm und Reich und die mangelnde soziale Mobilität (früher über die Armee gegeben) führten zu einem immer größeren Desinteresse der Masse der Bevölkerung am Zentralstaat. Während früher die römische Staatsbürgerschaft ein schwer zu erlangendes Privileg war, nach dem viele strebten, waren per kaiserlichem Dekret in der Spätantike dann einfach alle Römische Bürger, gleich ob sie ausreichend romanisiert waren oder nicht. Trotzdem ließ paralell zu dieser Maßnahme das Interesse und die Identifikation mit dem Zentralstaat nach. Ostrom unterschied sich hier von Westrom wesentlich dadurch, dass dort die schon vorher gegebene griechische Identität an die Stelle der römischen trat. Westrom war also schon vorher heterogener gewesen.

Zitat:Parther die Ostrom banden

Die Oströmer standen ebenfalls vor allem auch den Hunnen und den Goten gegenüber. Im weiteren war in der Spätantike das Partherreich bereits lange Vergangenheit und die Oströmer wurden vor allem durch die sehr langwierigen und extrem harten Kriege gegen die Sassaniden gebunden.

Aber gerade in der Untergangszeit herrschte an der Ostfront vergleichsweise Ruhe, da die Sassaniden ebenfalls mit den Einfällen der Hunnen sowie Weißen Hunnen zu kämpfen hatten.

Zitat:Es gab nach Jahrhunderten des Krieges keine taktischen Innovationen oder Manöver mehr, mit denen sich die Seiten überraschen konnten, außer vielleicht die besonderen Doppelreflexbögen der Hunnen.

Weshalb sich die Römer sehr schnell ebenfalls zu einem Volk von Bogenschützen entwickelten und direkt nach den Hunnen über die meisten Bogenschützen und über die meisten berittenen Bogenschützen verfügten.

Große militärische Auseinandersetzungen fanden aber im weiteren vor allem bei inneren Kriegen statt. Die meisten der barbarischen Gegner dieser Zeit verweigerten die Feldschlacht und wichen römischen Armeen einfach aus und griffen stattdessen systematisch immer dort an, wo gerade keine römischen Truppen waren. Dadurch wurde die Wirtschaft noch weiter abgewürgt bzw. zum erliegen gebracht. Wo sich Barbaren der weströmischen Armee stellten, verloren sie auch in der Spätantike üblicherweise vernichtet, beispielsweise die Alemannen gegen Julian Apostata.

Die römische Armee war auch in der Spätantike aufgrund besserer Ausrüstung und deutlich besserer Führung einer Barbarenarmee meist überlegen. Darauf reagierten die Feinde Roms primär dadurch, indem sie einfach den Kampf gegen römische Militäreinheiten verweigerten und stattdessen auf systematische Plünderungen setzten. Gerade aus diesem Grund stieg der Anteil der Kavallerie bei den Barbaren wie bei den Römern ständig an.

Während aber die Barbarenvölker ihre Reiterarmeen durch die Einnahmen aus den Plünderungen und Tributzahlungen wirtschaftlich erhalten konnten, überforderte die Unterhaltung der römischen Reiterarmee aufgrund ihrer höheren Kosten die römische Volkswirtschaft.

Zitat:So wurde wahrscheinlich auch das italische Kernland Westroms immer öfter verwüstet, geschwächt und schließlich von einfallenden Barbaren zersplittert und okkupiert.

Das italienische Kernland begann sich schon ab Marc Aurel in immer größerem Umfang zu entvölkern und degenerierte massiv schon lange bvevor es von einfallenden Barbaren geplündert wurde. Seuchen und die Ausbreitung der Malaria in Italien, die Auspressung der immer weniger werdenden Bauern, das Kolonentum und der Großgrundbesitz (nebst Sklavenwirtschaft) führten dazu, dass lange vor dem Erscheinen von Barbaren in Italien die italische Bevölkerung selbst am Ende war.

In der Spätantike war das wirtschaftliche und militärische Zentrum Gallien und das westrheinische Gebiet. Von dort und von der Rheingrenze kam auch die lebendige Wehrkraft der weströmischen Armeen sowie das für ihren Unterhalt notwendige Geld. Die Schlacht am Frigidus war deshalb so katastrophal, weil durch die in ihr entstandenen Verluste primär die Rheinarmee vernichtet wurde und damit die Rheingrenze fiel. Gallien wurde dadurch dann dem Zugriff der Barbarenstämme weitgehend schutzlos preis gegeben. Wenige Jahre nach Frigidus kollabierte dann die Wirtschaft in Gallien völlig und damit die letzte verbliebene ökonomische Basis Westroms.

Italien war demgegenüber schon lange Zeit davor irrelevant geworden. Auch der Verlust Nordafrikas und Spaniens war wesentlich schwerer als die Verluste in Italien. Nordafrika war beispielsweise die Kornkammer Westroms in dieser Zeit und Spanien immer noch ein wichtiges Rekrutierungsgebiet. Aus Italien kam im Gegensatz dazu in dieser Zeit kein wesentlicher Beitrag zur Reichsverteidigung mehr.
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