30.08.2012, 10:27
Ambassador schrieb:Es gibt in Südostasien/Papua einige Steinzeitlich lebende Stämme, in die sich von aussen niemand einmischt/einmischen darf.Solche indigenen Völker gibts auch im Amazonasgebiet, wo z.B. die brasilianische Regierung den Kontakt von Aussenstehenden zu diesen Völkern verbietet, um sie zu schützen. Die Frage ist: ist das richtig oder falsch?
Wenn man denen ihre Kultur und eigene Entwicklungsmöglichkeit nimmt, nur weil wir das Rad schon erfunden haben und wissen, was gut ist, würde wohl jeder dagegen sein und ich denke, Hunter auch.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Ethnologie ist es, dass Kultur und Gesellschaft keine statischen Gebilde sind, sondern sich dauernd verändern, sei es durch innere Umwälzungen oder durch äussere Einflüsse. Wenn man eine Kultur betrachtet, erhält man immer nur eine Momentaufnahme, von der man weder auf die vergangene noch auf die zukünftige Zusammensetzung dieser Kultur schliessen darf. Übertragen auf die Situation in Afghanistan bedeutet dies, dass sich früher oder später auch die Ideologie der Taliban bzw. die kulturelle Identität Paschtunen ändern wird, auch wenn etliche der Befürworter dieser Denkweisen dagegen arbeiten werden, da sie diese Denkweisen für das einzig Richtige halten und gefälligst jeder Mensch auf Erden sich dem anschliessen muss. Man könnte nun also, wie Du im Grunde genommen vorschlägst, einfach warten, bis sich die Paschtunen bzw. Taliban selbst soweit verändert haben, dass sie auf unserem Menschenrechtsniveau angekommen sind. Das würden wir vermutlich nicht mehr erleben. Wir nehmen dadurch aber unglaublich viel menschliches Leid in Kauf, das nicht nötig wäre. Ist das wirklich eine bessere Lösung? Ist das überhaupt akzeptabel?
Ich habe bei dieser Diskussion je länger das Gefühl, dass ich aus Sicht der Opfer schreibe, Du und Erich aus Sicht der Täter. Ich finde, man sollte mal die Opfer befragen, was sie von einem kulturellen Wandel hielten: die Frauen, die Mädchen, die Konvertiten, die unverheirateten Liebespaare, etc.
Ambassador schrieb:Man kann nicht überall etwas überstülpen, nur weil wir meinen, das es besser ist.
Es ist absolut normal, dass Völker versuchen, anderen ihre Wertevorstellungen überzustülpen. Jeder Glaubenskonflikt funktioniert genau so und hat immer so funktioniert. Unzählige Völker wurden von anderen assimiliert und das nicht nur von Europa aus. Das ist aber gar nicht, was ich für die Afghanen (bzw. andere Kulturen) will. Ich will, dass sich die afghanische Kultur mit unseren Wertvorstellungen vermengt. Dass den Afghanen gezeigt wird, wie unsere Kultur funktioniert und was sie zu bieten hat. Überstülpen dürfen sie sich davon dann selber, was sie wollen. Das Wichtigste daran ist dann, dass diejenigen, die sich für unsere kulturellen Eigenschaften interessieren und diese übernehmen, geschützt werden vor denen, die ihnen dafür den Kopf abschneiden wollen.
Ambassador schrieb:Wir demokratischen westlichen Staaten sind immerhin auch für unseren modernen Lebensstil verantwortlich, der nun auch zb. von China etc. übernommen wird - mit all den folgen für die Umwelt, was vielleicht zum Untergang der gesamten Menschheit führen wird. Was da wohl besser ist, wird man sich dann nicht mehr fragen können.Wir zwingen aber den Konsum niemandem auf. Viel mehr sind die anderen empfänglich für Ressourcenverschwendung. Das ist nur menschlich. Jeder will im Schlaraffenland leben. Wir sind erst für diesen Lebensstil verantwortlich, wenn wir Raubbau an den Ressourcen betreiben (was wir auch tun). Mit Menschenrechten hat das aber nur am Rand zu tun.
Erich schrieb:Das ist unsere (auch meine) westliche Sicht der Dinge . Und das (seit 1949 im Grundgesetz festgeschriebene) Recht auf "Leben und körperliche Unversehrtheit" entstammt einer über Jahrhunderte andauernden Entwicklung in unserer Gesellschaft, die in weiten Teilen Afghanistans (noch?) nicht angekommen ist - und warum verlangst Du von der traditionellen Stammesgesellschaft in Afghanistan, dass die Menschen dort eine Entwicklung, die bei uns Jahrhunderte gedauert hat, innerhalb weniger Jahren so nachvollziehen, dass unsere Wertemaßstäbe dann auch in der afghanischen Gesellschaft verwurzelt sind?Weil Idee und Rezept schon vorhanden sind. Weil die Afghanen die Möglichkeit haben, jetzt von dieser Idee zu profitieren, nicht erst nach ein paar Jahrhunderten der Entwicklung. Kulturelle Eigenschaften entstehen aufgrund von Rahmenbedingungen, die darum herum herrschen: Ressourcenlage, Sicherheitslage, Kulturkontakt. All diese Dinge haben sich in Afghanistan verändert, bzw. es besteht in naher Zukunft das Potential dazu. Am massivsten hat sich der Kulturkontakt geändert, da die westliche Kultur auf Besuch kam. Die Sicherheitslage ändert sich, wenn der afghanische Nationalstaat sein Gewaltmonopol wahrnimmt und auch ausüben kann. Am bescheidensten dürfte sich bisher die Ressourcenlage geändert haben, was sich aber beschleunigen könnte, wenn ein stabiler afghanischer Nationalstaat entseht. Sollten die beiden letzten Veränderungen tatsächlich stattfinden, wird das paschtunische Gesetz obsolet, der Kulturkontakt liefert den Input, was sich moralisch ändern könnte (und meiner Meinung nach sollte).