04.09.2012, 12:51
Zitat:Was Frauen, Kindern, Alten und Schwachen dort gefällt und nicht gefällt, können und müssen die unter sich ausmachen.Du gehst fälschlicherweise davon aus, dass die das einfach können. Das ist aber nicht der Fall. "Selber unter sich ausmachen" funktioniert nur zufriedenstellend für alle, wenn eine Debatte mit Beteiligung aller stattfindet, wobei jeder seine Argumente vortragen kann, ohne eine Strafe fürchten zu müssen. Klar haben wir diesen Zustand bei uns selber auch nicht (gewisse Dinge öffentlich auszusprechen, steht hier unter Strafe), aber eine Gesellschaftsform, wie sie im paschtunischen Afghanistan mit Taliban-Einfluss vorzufinden ist, ist von diesem Zustand noch unendlich viel weiter entfernt. Die Konsequenz ist, dass das "unter sich ausmachen" allein von den Mächtigen bestimmt wird. Und das schliesst den weiblichen Teil der Bevölkerung zu einem grossen Teil schon mal aus. Also nein, es ist eben keine Option, dass "die das unter sich ausmachen", bevor nicht ein Umfeld besteht, in dem das auch einigermassen gerecht möglich ist. Und dieses Umfeld wäre der funktionierende afghanische Nationalstaat. Wobei sich dieser an einer westlichen Demokratie orientieren sollte.
Zitat:Generell gilt, dass Bildung und wirtschaftlicher Aufschwung, die Bedeutung traditioneller Werte reduziert.Gerade mit der Bildung hatte das Taliban-Regime ja einen ganz tollen Umgang...jedenfalls besteht jetzt die Chance, Bildung und wirtschaftlichen Aufschwung in Afghanistan voranzutreiben. Dazu gehört aber, dass die Taliban verschwinden. Und dass ein funktionierender Staat aufgebaut wird.
Zitat:Vorträge über eine heilere Welt von irgendwelchen Schöngeistern aus der Schweiz oder Deutschland hat dagegen sicherlich wenig positive Ausstrahlungskraft auf den Afghanen an sich.
Ansprechsperson ist ja nicht nur der Afghane, sondern auch die Afghanin. Bei der kommts schon positiv an. Dass "der Afghane" vorerst keine Freude daran hat, ist klar; wer gibt schon freiwillig Macht ab?
Zitat:Den Paschtunen ihre seit vielen Jahrhunderten tief verwurzelten ethischen und moralischen Vorstellungen "umzuerziehen" (in erster Linie regeln diese das harte Über-/Leben dort), überfordert sicherlich jeden Europäer schon von Denkweise und Weltbild.In einem staatlich funktionierenden Afghanistan werden, wie ich weiter oben schon schrieb, paschtunische Überlebensregeln obsolet, da dem Staat die Aufgabe zufällt, das Überleben der Bürger zu erleichtern (nicht, es zu garantieren). Und glaub mir, der Europäer ist mit diesem Weltbild nicht überfordert, da er sich ja nicht erst seit fünf Minuten mit dem Thema beschäftigt.
Zitat:Ein weiterer Denkfehler ist, die Paschtunen mit den Taliban gleich zu setzten. Die Talibanbewegung ist aber doch recht jung, stammt aus dem pakistanisch-indischen Raum (Deoband-Schule). Die Paschtunen sind schon eine ganze Weile länger dort und ihre durchaus stark konservativen und auch islamisch geprägten Traditionen haben sie schon wesentlich länger, bevor sie von den religiösen Eiferern -den Deobandis/Taliban Schülern- in den 80ern und 90ern aus Richtung Pakistan ideologisch und militärisch überrollt wurden. Der Nährboden scheint auf dem Gebiet der Paschtunen recht fruchtbar für die Taliban gewesen zu sein, aber es ist genau genommen ideologisch/kulturell fremder Boden. Das macht sich in den gezeigten Meldungen über Widerstand gegen Schul-, Musik- und Literaturverbote bemerkbar.Ohne die Unterstützung der Paschtunen hätten die Taliban nie den Erfolg in Afghanistan und Pakistan, den sie hatten und immer noch haben. Sprich, es gibt eine hohe Kompatibilität zwischen Taliban-Ideologie und paschtunischer Gesellschaftsform. Das ist natürlich genau genommen keine Gleichsetzung, läuft de facto aber darauf hinaus. Dass es auch bei den Paschtunen Widerstand gegen die Taliban-Ideologie gegeben hat, davon gehe ich sowieso aus. Genützt hats in der Zeit der Taliban-Herrschaft offenbar nichts, also würde ich diesen Widerstand nicht hochspielen.