Kontrafaktische Geschichte: Westfeldzug 1940
#2
Zunächst mal vorab: ich habe nirgends den Herbst 1940 genannt, und von daher könnte es genau so gut das Frühjahr 1941 sein oder was auch immer. Ganz ursprünglich kam von deiner Seite mal die Aussage: was wenn die Sache dann noch 1 1/2 Jahre länger gedauert hätte. Dies hatte ich so interpretiert: 1 1/2 Jahre ab Mai 1940, damit wären wir dann an der Grenze von 1941 zu 1942.

Aber wie dem auch sei:

Die wesentliche Stärke der deutschen Armee waren zu diesem Zeitpunkt die Führung, die Fernmeldemittel, der Offensivgeist in den entscheidenden (wenigen!) Großkampfverbänden, die Konzentration der Panzer in eben diesen, die Ausrichtung der Luftwaffe auf taktsiche Aufgaben. All dies stärkte die deutschen Armeen erheblich in der Offensive.

Hier aber gehen wir nun kontrafaktorisch davon aus, dass das Reich in der Defensive bleibt und im weiteren auch defensiv kämpft. Und hierzu muss man beachten (was ich auch in dem Strang über Kriegsphilosophie geschriebegn habe), dass man dazu eine erhebliche Quantität an Truppen benötigt, welche das Reich eben nicht hatte. Die ganzen Zahlen an mobilisierten Soldaten täuschen darüber hinweg, dass die Wehrmacht insgesamt, insbesondere aber das Heer größtenteils eine querschnittlich gerademal semimoderne Streitmacht war.

Vor allem im Gegensatz zum französischen Heer war der Gros der deutschen Divisionen schlecht ausgerüstet, teilweise auch ungenügend ausgebildet und hätte einen breitflächigen linearen Angriff der französischen Streitkräfte nicht aufhalten können. Und genau das war die französische Doktrin für den Fall einer Offensive, linear systematisch überall zugleich vorwärts zu gehen, fortwährend abgedeckt durch Artilleriefeuer und die Panzer aufgeteilt auf die ganzen Infanterie-Einheiten, diesen den Durchbruch bereitend. Ein solcher Angriff des französischen Heeres allein hätte schon von der Wehrmacht nicht aufgehalten werden können. Er wäre ins Reich eingedrungen und hätte sich im Idealfall für die Deutschen dann erst mittem im Ruhrgebiet festgefressen (wohlgemerkt als Idealfall).

Nun kommen wir zu einem weiteren wesentlichen Punkt. Der Position der deutschen Rüstungsindustrie. Diese wäre zu entscheidenden Anteilen bei einem breitflächigen massiven französischen Angriff direkt in die Reichweite französischer Waffen gekommen, und entsprechend die Produktionskapazität der deutschen Industrie dadurch drastisch verringert worden. Entsprechend hätte das Reich den weiteren Abnutzungskrieg allein daraus verloren, selbst wenn es gelungen wäre die französische Offensive aufzuhalten, was zu bezweifeln ist.

Diese Problemstellung wurde seitens der deutschen Führung in dieser Zeit übrigens auch ganz genau so gesehen, und sowohl die Führung der Wehrmacht, wie sogar Hitler selbst hatten eine regelrechte "Torschlusspanik", dass der Feind wenn man ihn jetzt nicht bald irgendwie ausschaltet ein massives Übergewicht erlangen würde und dem folgend ein Krieg unmöglich mehr gewonnen werden könnte. Das würde fortwährend so von den deutschen Führungseliten sogar wortwörtlich geäußert. Genau deshalb überhaupt dieses Hasardspiel des Angriffes auf Frankreich durch die Ardennen. Man hatte schlicht und einfach gar keine andere Wahl.

Aber wie sah die Lage nun völlig unabhängig von der Einschätzung der deutschen Führung tatsächlich aus, den jetzt, hinterher, haben wir ja korrekte Zahlen die damals so nicht unbedingt zur Verfügung standen.

Das deutsche Heer verfügte Anfang Mai über ca 4,2 Millionen Soldaten in über 157 Divisionen. Für die Westoffensive waren dabei 135 Divisionen vorgesehen. Davon waren aber viele überhaupt nicht einsatzbereit oder wurden gerade eben erst aufgestellt. Die Soldaten in mancher dieser Potemkinschen Divisionen hatten nicht einmal Uniformen (ich schrieb bereits darüber). Entsprechend wurde der Angriff auf Frankreich mit 93 Divisionen begonnen, und dass war in Wahrheit das äußerste was die Wehrmacht im Westen an real einsetzbaren Verbänden aufbringen konnte. Das waren gerade mal ca 2,8 Millionen Soldaten.

Demgegenüber umfasste das französische Heer zu diesem Zeitpunkt über nicht weniger als 5,5 Millionen Soldaten. Die Ausrüstungslage war querschnittlich wesentlich besser als bei den deutschen drittklassigen Reserve, Landwehr und Landschützen Einheiten die einen erheblichen Anteil der genannten deutschen Truppen ausmachten. Dazu kam noch die britische Expeditionsarmee mit ca 500.000 Mann die ebenfalls querschnittlich deutlich besser ausgerüstet waren als die deutschen Verbände. Da im vorliegenden Szenario die Holländer und Belgier neutral geblieben wären, können wir diese hier mal rausnehmen, sonst sähe die Lage für das Reich noch hoffnungsloser aus.

Man sollte zudem noch bedenken, dass von den real 93 verfügbaren Divisionen nur 10 Panzerdivisionen waren und nur 6 Motorisierte. Nur diese gerade mal 16 deutschen Divisionen gaben bei der Offensive den Ausschlag, bei einer Defensive aber wären sie keineswegs derartig zur Wirkung gelangt.

An diesem Kräfteverhältnis hätte sich auch bis zum Herbst nichts geändert. Den jedwede deutsche Verstärkung wäre durch entsprechende britische und französische Verstärkungen kompensiert worden.

Bei einer französischen Offensive wäre der französischen Artillerie der Doktrin Frankreichs gemäß eine entscheidende Rolle zugekommen. Um es mal mit Zahlen auszudrücken: Frankreich allein verfügte bereits über mehr als 11.000 Geschütze und weitere tausende waren bestellt. Bis zum Herbst (als von dir genannten Zeitpunkt) hätte Frankreich allein mindestens mehr als 14.000 Geschütze ins Feld führen können, auf gerade mal maximal ca 8000 deutsche Geschütze die dann dem Reich zur Verfügung gestanden hätten. Das Ungleichgewicht der Artillerie war de facto erdrückend und auch deine Relativierungen in Bezug auf die Qualität helfen hier nicht weiter, war auch ein Gros der deutschen Geschütze keineswegs herausragend. Dieses Zahlenverhältnis hätte sich bis zum Herbst noch deutlich weiter zugunsten der Westallierten verändert, wären doch die Briten hier ebenfalls noch mit einer nicht unerheblichen Zahl von Geschützen hinzu gekommen.

Die deutsche Panzerwaffe wäre im Herbst vermutlich auf um die 3000 Panzer gekommen. Aber: davon waren ca 500 vom Typ I und ca 1000 vom Typ II. Das heißt die Hälfte dieser Panzer wäre weitgehend wertlos gewesen für eine Defensivschlacht (in einer Offensive sieht das anders aus).

Die französische Panzerwaffe allein wäre im Herbst bei Fortführung des Status Quo was die Produktionszahlen angeht auf um die 4000 Kampfpanzer gekommen. Querschnittlich wären sie in jedem Bereich an Qualität und Zahl überlegen gewesen.

Mal als Beispiel: auf die ca 1500 Panzer vom Typ I und II kamen bereits im Mai 1940 nicht weniger als ca 1700 Renault und Hotchkiss (welche du selbst als überlegen bezeichnet hast - macht eine Überlegenheit von 200 Einheiten bei qualitativer Überlegenheit jedes einzelnen Systems). Die Zahl der Somua war größer als die Zahl der Panzer III und es gab 274 Char B auf 278 Panzer IV, aber hier lief die Produktion gerade erst an und wären bis zum Herbst hier deutliche Verschiebungen gewesen. Die deutsche Produktion von Panzer III und IV war demgegenüber langsamer. Insgsamt kann man bis zum Herbst selbst bei einer konservativen Schätzung von einer deutlichen Überlegenheit der Panzer auf alliierter Seite ausgehen, und zwar vermutlich um 1000 Panzer mehr auf allierter Seite und diese in jedem Bereich von Typen qualitativ überlegen.

Zur Luftwaffe muss man anmerken, dass hier gerade die französichen Luftstreitkräfte primär auf eine strategische Luftkriegsführung hin ausgerichtet waren. Wäre diese dann im Herbst so angelaufen wie von der französischen Luftwaffenführung geplant, hätte man von Frankreich aus im Ruhrgebiet und anderen deutschen Industriegebieten erhebliche Schäden anrichten können, entsprechend wäre hier die deutsche Produktion dadurch noch mehr ins Hintertreffen geraten. Die Rolle welche ansonsten die taktische Luftwaffe einnehmen würde, wäre durch die immens überlegene Artilerie der Franzosen kompensiert worden, während die deutsche Luftwaffe wiederum die viel schwächere deutsche Artillerie hätte ergänzen müssen.

In der Luft hätte wiederum weitgehende Parität geherrscht, da gehe ich nicht davon aus, dass sich eine der beiden Seiten hätte durchsetzen und die tatsächliche Lufthoheit hätte erringen können.

Aufgrund der ganzen Doktrin auf westalliierter Seite und deren grundsätzlicher strategischer Annahme einen jahrelangen Abnutzungskrieg zu führen, wäre der Krieg in keinem Fall 1940 entschieden worden. Eine entsprechende westalliierte Offensive hätte ja nicht einmal ein solches Ziel gehabt. Das Ziel wäre die systematische Materialschlacht gewesen um den Feind abzunutzen. Diese Abnutzung hätte auf deutschem Boden, teilweise inmitten elementarer deutscher Industriegebiete stattgefunden. Derweilen wären sowohl auf französischer wie auch auf britischer Seite immer mehr und immer modernere Systeme zugelaufen.

Die Lage wäre aus der Betrachtung all dieser Faktoren zwingend im Laufe von Monaten (oder Jahren) zuungunsten der Deutschen gekippt und schließlich hätte das Reich vollständig verloren.

Und zu exakt dieser gleichen Schlußfolgerung kam die deutsche Führung damals auch, gerade deshalb versuchte sie das Hasarspiel im Westen, den ansonsten wäre die Niederlage unausweichlich gewesen.

Das französische Heer allein hätte schon genügt und die Wehrmacht wäre in der Defensive schlicht und einfach erdrückt worden.

Noch ein paar kurze Einzelkritiken:

Technologiekiller

Stichwort 8,8: natürlich hätte dies hohe Verluste bedeutet, aber insgesamt wäre es nicht so relevant geworden. Den der Krieg wäre nicht durch Panzeroffensiven, sondern vor allem durch den Kampf von Infanterie und Artillerie entschieden worden. Das Infanterie - Artillerie Team wäre die dominante Komponente in diesem Kampf gewesen und allein schon die Doktrin und die Dislozierung der Panzer bei den Franzosen hätten dazu geführt, dass die 8,8 in keinster Weise solche Erfolge gehabt hätten wie dann später in Nordafrika et al. Das wäre ein anderes Kriegsbild gewesen. Gerade eben wegen der deutschen Erfolge in Frankreich versuchte dann jeder diese zu imitieren und auch so zu kämpfen. Bei einer westalliierten Offensive und dem folgend einem defensiven Kampf der Deutschen wäre das ganze Kriegsbild ein anderes geworden, und zwar eines dass vor allem von Artillerie bestimmt worden wäre. Die Westalliierten hätten hier eine Übermacht von mindestens 6000 Geschützen zum Einsatz bringen können, nochmal abgesehen von der erdrückenden Übermacht ihrer Infanterie-Divisionen. Während die deutschen Panzer-Divisionen welche überlegen waren in der Defensive eben nicht so eine Wirkung entfaltet hätten. Den dazu waren sie ja auch nie konzipiert worden.

Stichwort Ju-87: Die Wirkung der Ju-87 war vor allem psychologischer Natur. Die tatsächliche reale Wirkung auf die Bodeneinheiten war demgegenüber viel geringer. Bei einer Defensive auf deutscher Seite und einem von westalliierter Seitee ohnehin als jahrelangen Abnutzungskrieg geplanten Offensivkrieg ins Reich hinein wäre die taktische Luftwaffe der deutschen nicht ansatzweise so zur Wirkung gekommen. Ihre spezifische Rolle war es ja gerade eben die Artillerie zu ersetzen ! Dieses Ersatzes hätte es in der Defensive natürlich auch bedurft, aber er wäre in der erdrückenden Überlegenheit der französischen Artillerie insgesamt irrelevant geworden. Die taktischen Bomber wären im weiteren vorübergehend lediglich ein Ersatz für fehlende deutsche Artillerie gewesen, bis sie vollständig abgenutzt gewesen wären.

In keinster Weise kann ich hier also deine Aussage teilen, die Sache wäre ausgeglichen gewesen. Die Überlegenheit der Westalliierten war schon im Mai 1940 erdrückend, sie wäre mit jeder weiteren Verzögerung nur immer drastischer geworden, sie wäre umso extremer geworden wenn der Krieg in das Gebiet des Deutschen Reiches hinein getragen worden wäre und Deutschland weiter defensiv gekämpft hätte.

Tatsächlich voll einsatzfähig hatte das Heer gerade mal 61 Infanterie-Divisionen. Bis zum Herbst hätte man noch 70 voll einsatzfähig bekommen. Frankreich hatte an der Nordostfront bereits im Mai 1940 nicht weniger als 107 voll einsatzfähige Divisionen, dazu noch die 10 britischen. Bis zum Herbst hätte Frankreich um die 130 Divisionen für eine Offensive aufbringen können und die Briten weitere 5 dazu, man wäre hier von den real vollständig einsetzbaren Divisionen von westalliierter Seite um das doppelte überlegen gewesen, bei einer um das doppelte überlegenen Artillerie, bei einer zumindest gleichwertigen Luftwaffe, wobei letztgenannte fortwährend stärker geworden wäre, sowohl an Zahl wie auch an Qualität, während die deutsche Industrie unter den strategischen Luftangriffen der darauf spezialisierten westallierten Verbände wesentlich mehr gelitten hätte als umgekehrt deren Industrien, Kurz und einfach:

Ein solcher Krieg wäre für das Reich nicht auf Dauer führbar gewesen, er wäre zwingend verloren worden.
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RE: Kontrafaktische Geschichte: Westfeldzug 1940 - von Quintus Fabius - 22.04.2022, 14:52

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