Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg
Camarilla:

Ebenso herzlich willkommen im Forum. Militärgeschichte ist von einigen hier ein Steckenpferd, und früher war mal deswegen der Geschichte-Strang recht aktiv (und rein persönlich bin ich mal vor Ewigkeiten wegen römischer Militärgeschichte hier gelandet). Es wäre mir daher eine besondere Freude, wenn ich in diesem Bereich wieder mehr diskutieren und dazu lernen könnte!

Zu deinen Ausführungen möchte ich ergänzend anmerken, dass ich solche Mechanismen seit geraumer Zeit immer als Bestätigungsfehler bezeichne. Keine Ahnung ob das überhaupt ein passender Begriff ist, aber ich meine es so, dass man in ganz vielem bereits eine Meinung hat, und dann neue bzw. weitere Informationen so wahrnimmt, dass sie zu der bereits vorgefassten bestehenden Meinung passen. Ad extremum kann dabei der eigentliche Inhalt einer Information sogar in sein Gegenteil verkehrt werden. Das gilt meiner Auffassung nach sogar dann, wenn man sich der bereits vorgefassten Ansicht noch gar nicht selbst bewusst ist und selbst noch meint, dass man noch gar keine feste Meinung dazu gebildet hat. Die Fehlinterpretation der dann herein kommenden Informationen (in der Art, dass diese zum bereits gefällten Entschluss passen) bestätigt dann diese Entscheidung / Wahrnehmung und je mehr diese bestätigt wird, desto mehr verstärkt sich dieser Effekt und desto mehr werden alle weiteren Informationen immer sicherer und weitergehender so interpretiert und/oder wahrgenommen, dass sie ebenfalls dazu passen.

Meiner Meinung nach bestätigt sich so dann immer weitergehender dass man schon vorher wusste. Deshalb nenne ich es Bestätigungsfehler. Gerade durch das Forum habe ich diesen auch schon oft bei mir selbst wahrgenommen. Es ist immer wieder erstaunlich für mich gewesen, wie ich dann Dinge trotz der Annahme dass ich objektiv und möglichst kalt-rational über sie denke falsch wahrgenommen habe. Ein Musterbeispiel im Kontext dieses Stranges ist meine Wahrnehmung der russischen Streitkräfte gewesen. Ich habe Russland schon vor 20 Jahren als Feind gesehen, und als zukünftigen Kriegsgegner, und ebenso vor 10 Jahren usw. aber ich habe auch immer die Stärke und Leistungsfähigkeit der russischen Streitkräfte viel zu hoch angesetzt und ständig deshalb eine möglichst hektische Aufrüstung gefordert. Weil ich von einer sehr ernsthaften militärischen Gefahr ausging, und alle Informationen über die russischen Streitkräfte daher entsprechend interpretierte.

Im vollen Wissen um die Korruption und die Inkompetenz wahr ich trotzdem nicht in der Lage den tatsächlichen Zustand der russischen Streitkräfte richtig einzuordnen.

Bezüglich rechtsextremstischer Kreise in der Ukraine und insbesondere in den ukrainischen Streitkräften könnte man in diesem Kontext aber auch einwerfen, dass diese im Westen nun gerade eben nicht mehr ausreichend wahrgenommen werden, weil die Ukrainer als die Guten angesehen werden und damit alle Informationen welche über die Ukraine herein kommen eher Pro-Ukrainisch interpretiert / wahrgenommen werden. Entsprechend leugnet man solche Problemstellungen, weil sie dem Bild dass die Ukrainer hier "die Guten" sind (scheinbar) wiedersprechen. Die Ukraine verteidigt daher immer nur Freiheit und Demokratie, auch die Unsrige und alles was dem widersprechen könnte wird gedanklich verdrängt oder uminterpretiert.

Entsprechend wirkmächtig ist damit auch die ukrainische Propaganda, welche diese Prozesse teilweise mitinitiiert hat, welche aber größtenteils einfach nur diese ganz von selbst ablaufende Entwicklung aufgreift, verstärkt und aktiv ausnützt.

Beschließend ist meiner Meinung nach noch ein weiterer Aspekt, dass das Übermaß an Informationen und die Haltlosigkeit in einem derart unbestimmten Informationsfeld viele Menschen überfordert, dazu kommt noch das Wegbrechen von Strukturen welche ansonsten früher Halt gegeben haben (Familie, Dorf, Verein, Nation, Religion etc). Und deshalb streben die Menschen (unbewusst)meiner Meinung nach oft danach, durch Vereinfachungen und Echokammern diesem kaleidoskopartigen Zustand zu entkommen, um wieder Klarheit und Struktur für sich zu generieren. Die Technologisierung der Gesellschaft und die Auflösung vieler althergebrachter Strukturen, Werte und Normen lassen die Menschen ratlos und haltlos zurück. Entsprechend sind diese Zustände heute meiner Meinung nach auch ein Symptom der industriell-technologischen Gesellschaft. Die Technik produziert Umstände, welche wiederum Selbstläufer hervor bringen, welche die Menschen wiederum dazu bringen, sich selbst eine Wirklichkeit zu stricken.

Gesellschaften die in Teilen technologisch hinterher hinken, und damit auch sozialkulturell (da die soziakultur weitgehend mit der Technik interagiert), und die daher und auch aus sonstigen Gründen starke Bruchlinien in der Gesellschaft selbst haben, reagieren in diesem Kontext meiner Meinung nach noch viel stärker auf die beschriebenen Mechanismen. So erklärt sich meiner Meinung nach vieles was seit Jahren in Russland so geschieht, dass ist eben nicht alles einfach nur von oben her gesteuerte Propaganda und in vielen Aspekten müsste man fragen, was hier Henne und was Ei ist, und ob die Propaganda hier nicht auch einfach bereits ablaufende Entwicklungen aufgreift und diese verstärkt, bzw. ab wann diese der Propaganda und Lenkung des Staates aus dem Ruder gelaufen sind (was mein Eindruck ist). Ganz viele Russen glauben die abstrusesten Sachen über den Westen, und dies eben nicht, weil die Staatsmedien ihnen das so vorgeben, sondern auch unabhängig von diesen. Entsprechend verstärken die Informationen welche sie in den Staatsmedien finden nur was sie ohnehin schon glauben. Aber sie interpretieren auch alle sonstigen Informationen entsprechend, dass sie dazu passen (Bestätigungsfehler).

Gute Bekannte und Freunde von mir leben ja (bekanntermaßen) in Ostsibirien. Die haben Internet, die "surfen" auf westlichen Seiten, die sehen sich westliche Medien an. Trotzdem sind sie über Jahre hinweg immer mehr abgeglitten und ist ihr Hass auf "den Westen" ständig gestiegen. Obwohl sie keine Staatsmedien konsumieren und obwohl sie von der aktuellen russischen Regierung auch nichts halten. Aber trotzdem wird alles was sie im Internet frei sehen nicht so wahrgenommen wie wir es wahrnehmen. Entsprechend glauben sie beispielsweise fest daran, dass Satanisten im Westen die Macht übernommen haben, um das Christentum auszurotten und die ganzen Gesellschaften dort zu verderben und ins Verderben zu führen. Und alles was sie in westlichen Medien lesen, wird von ihnen entsprechend interpretiert.
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