Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg
Pogu hat die praktische Realität hier meiner Meinung nach am besten beschrieben:

Zitat:Was man vom Ukraine-Konflikt weiß, und da passt das letzte Verb schon nicht, dürfte die strategische Lenkung durch dichte Vorgaben geschehen, die operative Führung durch Befehlstaktik und das bloße Überleben der Ratlosen ganz unten und ganz vorne durch Auftragstaktik. Womöglich auf beiden Seiten, unterschiedlich gewichtet.

So verhält es sich in jedem Krieg, alles kommt parallel nebeneinander und gleichzeitig vor, in jeweils unterschiedlicher Gewichtung, aber nichts desto trotz nie so wie es in der Theorie als Ideal angedacht wird.

Und meine These dazu ist noch, dass man die Frage was für eine Art von Führungskultur man pflegt nicht überbewerten darf. Denn das ist nur EIN Faktor von vielen. Beispielsweise:

Schneemann:

Zitat:D. h. bei der Gegenüberstellung haben die deutschen Panzer in Nordafrika in etwa ein Abschussverhältnis von 2,5:1 zum Gegner, wobei ein erheblicher Teil der Panzer auch nicht im direkten Duell mit gegnerischen Panzern verloren ging, sondern von Pak oder Flak abgeschossen wurde. Im Sommer 1942 z. B. erlitten die Deutschen die meisten Panzerverluste nicht durch Crusader-, Lee-, Matilda-Tanks und Co., sondern durch Minen und die neuen 6-Pfünder-Pak (57 mm).

Und umgekehrt verloren auch die Briten die meisten Panzer durch Minen, und insbesondere durch deutsche 8,8cm. Es war nicht die deutsche Auftragstaktik welche hier hohe Verluste bei den Briten erzeugte, sondern die überlegene deutsche Feuerkraft (eines der definierenden Merkmale des Abnutzungskrieges), welche in Form der 8,8 die britischen Panzer auf große Distanz zerstörte, noch bevor diese selbst überhaupt so weit heran gekommen wären, dass sie ihre eigenen Waffen hätten einsetzen können.

Die Panzerverluste resultieren also bei beiden Seiten nichtprimär aus der Auftragstaktik oder der Befehlstaktik; nicht aus der Frage der Führungskultur, sondern sind schlicht und einfach technischen Umständen geschuldet.

Im übrigens finde ich es befremdlich die Italiener einfach heraus zu rechnen, als ob sie nicht da gewesen wären. Es ist ziemilch verfälschend, einfach nur Deutsche vs alle Alliierten zu rechnen, als ob dem so gewesen wäre. Die ganze Rechnerei (der ich selbst aber gar nicht diese Bedeutung zumesse) zeigt jedoch schön auf, wie Personen ala Crefeld auf entsprechende Zahlenverhältnisse kommen.

Stichwort Verluste:

es ist einfach rechnerisch falsch beim Sieger die Verwundeten als dauerhaften Ausfall zu rechnen, denn dass sind sie nicht. Ganz allgemein rechne ich daher lieber ohne Verwundete, dafür aber mit Gefangenen. Denn Gefangene fallen beim Verlierer ebenso dauerhaft aus, wie Tote. Während umgekehrt Verwundete beim Sieger keineswegs dauerhaft ausfallen.

Es ist völlig gleich ob ein deutscher Soldat nun Tot ist oder Gefangen ist, auch als Gefangener fiel er dauerhaft aus.

Stichwort Panzer von zweifelhaften Kampfwert:

Auch die Briten hatten Panzermodelle, die einfach nur schlecht bzw. unterlegen waren und ebenso waren auch die deutschen Panzer in keinster Weise querschnittlich so überlegen wie das oft wahrgenommen wird. Aber auch in diesem Aspekt zeigt sich ein Primat der Technik vor irgendwelcher Führungskultur. Die Italiener hätten aufgrund ihrer Ausrüstung, Logistik und der sehr schlechten Qualität ihrer Panzer und der schlechten Moral ihrer Truppen auch mit einer idealen Maßstäben entsprechenden Auftragstaktik in keinster Weise groß etwas reißen können.

Man darf eben die Frage der Führungskultur nicht als alleinigen Faktor so übergewichten!

Rudi:

Zitat:Gefangene zu zählen macht m.E. wenig Sinn.

Es macht absolut Sinn, weil diese Soldaten für die Kriegsführung im Gegensatz zu Verwundeten dauerhaft ausfallen, während viele der Verwundeten wieder in den Kampf geschickt werden können. Es macht daher mehr Sinn Gefangene zu zählen als Verwundete. Aber bei fast allen Rechnungen zählt man Verwundete zu den Verlusten (welche immer aus KIA, MIA und WIA zusammen gesetzt werden), rechnet aber die absolut wesentlichen Zahlen der Gefangenen nicht mit. DAS macht keinen Sinn, weil es völlig das Bild verstellt.

Verwundete und Kranke auf Seiten des jeweiligen regionalen Sieger können zu großen Anteilen wieder einsatzfähig gemacht werden. Gefangene der Verliererseite sind praktisch gleich Toten oder im weiteren kampfunfähig verstümmelten.

Zitat:Der durchschnittliche Kampfwert der deutschen Truppen liegt etwa 23 Prozent höher als der alliierten Truppen.

Es spielt gar keine Rolle ob er 10% höher war oder 30% höher. Die Frage ist, warum er höher war. Und da ist das heute teilweise zur Worthülse verkommene "Auftragstaktik! als Antwort nicht nur unzureichend, ist es ist meiner Meinung nach in etlichen Fällen sogar grob falsch.

Ich bin ja gar nicht dagegen, dass die Auftragstaktik für die Deutschen oft ein Vorteil war, oder das deutsche Truppen querschnittlich oft überlegen waren, darum geht es mir gar nicht! Worum es mir geht ist, dass diese Überlegenheit aus einer ganzen Reihe von Faktoren heraus resultiert, aus einem ganzen Faktorenbündel. Und dass die Frage der Führungskultur nur einer dieser Faktoren ist.

Zitat:Danach war die WH den Westallierten auch in der Endphase trotz der materiellen Überlegenheit immer noch qualitativ überlegen.

Nein war sie nicht. Weil die erdrückende Luftüberlegenheit der Westalliierten, ihre Überlegenheit was die Artillerie angeht und ihre immense Überlegenheit was die Logistik angeht jedweden kämpferischen Vorteil auf der bloßen taktischen Ebene mehr als zunichte machten.

Meiner Meinung nach ist ein typisches Problem hier, dass man zu sehr auf die bloße taktische Ebene blickt, zu sehr nur auf den Kampf selbst (der nur ein Teil des Kriegsgeschehens ist) und zu sehr auf die Frage ob auf der untersten taktischen Ebene irgend ein deutscher Panzerzug äußerst geschickt viel mehr westalliierte Panzer abschoss als diese umgekehrt deutsche Panzer. Das ist im Gesamtgeschehen zum einen gar nicht so relevant, und ist zum anderen eben eine problematische Sichtweise, weil es den Blick darauf verstellt, was über die bloße Frage der materiellen Ausstattung hinaus bei den Deutschen alles schlecht lief.

Das Narrativ, welches hier ja auch einige bedienen ist:

Die deutschen Soldaten waren überlegen, der Feind siegte obwohl er unterlegen war nur aufgrund seiner immensen materiellen Überlegenheit.

Dieses Narrativ ist einfach unzureichend, um das militärische Geschehen damals wirklich zu verstehen. Es ist für den Verlierer natürlich bequem, den Sieg der Alliierten einfach auf ihre materielle Überlegenheit zu reduzieren. Noch darüber hinaus ist die dann stets stereotyp hervor geholte Aussage: die Auftragstaktik machte die Deutschen damals so überlegen einfach nicht haltbar.

Es ist einfach völlig irrelevant, ob in einem Gefecht eine deutsche Panzerkompanie weit über ihrer Gewichtsklasse boxte und irrelevante taktische Erfolge erzielte.

Zitat:Hast Du dafür ein Beispiel ? Ich gehe bisher davon aus, daß die Auftragstaktik so tief im Wesen deutscher Armeen und den Vorschriften verwurzelt ist, das sie eigentlich immer, mehr oder weniger angewandt wird.

Vorschriften und Auftragstaktik sind zwei Begriffe die sich beißen.

Aber nehmen wir mal als Beispiel den Haltebefehl vor Dünkirchen, oder die starren Haltebefehle an der Ostfront. Nun kann man argumentieren, dass diese ja nicht von der Wehrmacht ausgegangen wären, sondern ihr künstlich übergestülpt wurden.

Das ist auch eines dieser bequemen und gerade im Deutschen Raum so viel vorgetragenen Narrative: die Wehrmacht war herausragend gut und Hitler ist Schuld dass die Wehrmacht verloren hat, weil seine Befehle so schlecht waren und man sie halt befolgen musste, oder sonst. Man hätte ja gewonnen und alle Siege und alle militärische Leistung der Wehrmacht waren das Verdienst der Generale, und alle Niederlagen und alles Versagen kamen halt einfach nur von Hitler her. Dieses Narrativ ist von vielen deutschen Generalen nach der Niederlage systematisch gestrickt worden. Selbst von Manstein war sich nicht zu schade genau dieses Narrativ überall aktiv zu verbreiten.

Entsprechende Haltebefehle wurden von oben bis unten steif befolgt. Das war Befehlstaktik von der Spitze der Wehrmacht über die mittleren Ebenen bis hinunter auf die taktische Ebene. Und dadurch wurden in etlichen Situationen erhebliche militärische Nachteile eingegangen und das völlig unnötig. Oder einfacher gesagt: die Wehrmacht konnte durchaus auch Befehlstaktik.

Dass es auch anders hätte gehen können, Führerbefehl hin oder her zeigt neben vielen anderen weniger bekannten Fällen das Beispiel von Paul Hausser bei den Kämpfen um Charkow.

Allgemein:

Und um aus all dem mal wieder einen Bogen zur Ukraine zurück zu spannen:

Die Ukrainer sind nicht überlegen weil sie "Auftragstaktik" befolgen, solche kommt zwar bei ihren Verbänden öfter vor als bei den Russen, aber keineswegs ist sie bei den Ukrainern dominierend. Und umgekehrt gibt es auch russische Einheiten die so oder so ähnlich kämpfen.

Und auch wo eine solche Führungskultur in der Ukaine angewendet wird, ist sie nur ein Faktor von vielen.

Die Auftragstaktik darf nicht weiterhin so überhöht werden, dass man sich geradezu magische Wunder von ihr erwartet. Denn wenn man sich selbst gedanklich so begrenzt, dann ist der Weg in die militärische Niederlage vorprogrammiert.

Kriege sind viel zu komplex und zu dynamisch um durch einen Faktor derart dominiert zu werden, sie können auch nicht durch eine Monokausale Erklärung begriffen werden. Jede monokausale Erklärung (Auftragstaktik = Grund für Überlegenheit) muss daher falsch sein.

Beschließend ist noch eine Henne - Ei Frage zu klären:

Auftragstaktik, oder Mission Command, oder jede Kampfweise dieser Art völlig gleich wie sie heißt ist oft auch einfach eine Folge der Umstände. Je weniger Ressourcen man im Verhältnis zum Gegner hat, je größer und massiver das militärische Geschehen ist, je schwieriger der Kampf und je gewaltiger der Krieg, und je größer das Chaos, die Unbestimmtheit und die Unbeherrschbarkeit der Situation sind - desto mehr neigt die unterlegene Seite ganz von selbst zu solchen Kampfweisen. Und wenn die Führung es zulässt, dann greifen solche Systeme dann von unten her immer weiter nach oben um sich. Wenn die Führung es nicht zulässt, bleiben sie auf die unteren Ebenen beschränkt.

Und wenn eine Seite sich oft in einer solcher Situation befunden hat, wie beispielsweise Preußen, wird diese aus der Not heraus geborene Führungskultur dann irgendwann institutionalisiert. Und schon landen wir bei der typisch "deutschen", genauer genommen preußischen Auftragstaktik.

Die Ukraine setzt(e) eine solche Vorgehensweise / Führungskultur daher nicht zuletzt auch deshalb querschnittlich mehr als die Russen ein, weil sie die unterlegene und eigentlich überforderte Partei ist. Und umgekehrt ist ein solches System bei den Russen rar, weil die Führung es dort aktiv bekämpft, obwohl es im Feld auch unter russischen Soldaten immer wieder neu entsteht. Es wird deshalb dort aktiv bekämpft, weil man dort selbstständig denkende und eigeniniatiativ handelnde Soldaten als erhebliches politisches Problem begreift.

Entsprechend werden sogar hochrangige Offiziere / Generäle in Russland nach Kriegen oft systematisch ermordet. Beispielsweise sind viele hochrangige Offiziere nach den Tschetschenienkriegen ermordet wurden, von der Geheimdienstkamarilla welche Russland beherrscht. Und zwar gerade eben die, welche aufgrund der Umstände dann zunehmend in Richtung Auftragstaktik gingen.

Je chaotischer, unbeherrschbarer und größer ein Krieg, desto mehr greift ein solches System ohnehin um sich, ganz von selbst, es sei denn die jeweilige Führung geht aktiv dagegen vor.

Wie es auch die deutsche Führung dann an der Ostfront getan hat. Man ging in der Verteidigung nach der Schlacht am Kursker Bogen immer mehr zu immer rigiderer Befehlstaktik über, und endete schließlich bei starren Haltebefehlen.

Ganz beschließend noch eine amüsante Bewertung durch Moltke den Älteren nach dem Kriege 1866:

Zitat:Bei fast nur glücklichen Gefechten ist 1866 der Mangel an Leitung von oben, das selbständige Handeln der unteren Kommandobehörden ohne erheblichen Nachteil geblieben; in einem neuen Feldzug könnte dieses Gewähren lassen von bedenklichen Folgen sein.
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