10.06.2023, 12:35
@Quintus
Zu Punkt 1 gilt es zu sagen, dass die Guerilla des "Sendero Luminoso" genau genommen keine richtige Parallelgesellschaft war, dazu waren sie insgesamt viel zu wenige als dass man von einer geheimen Gesellschaft im Untergrund hätte sprechen können. Die Angehörigen dieser Gruppe waren zwar äußerst konspirativ und verschwiegen, aber vermutlich zählten die direkten Anhänger Guzmáns - wie du auch selbst im zweiten Beitrag angemerkt hast - nie mehr als 500 bis 800 Personen, auch der Waffenbestand war relativ überschaubar (bezogen auf Schusswaffen; die meisten Gewaltakte wurden auch mit Keulen, Messern etc. oder entwendetem Dynamit aus den Bergwerken Perus begangen). Diese Gruppierung stand bzgl. Größe und Bewaffnung somit in deutlichem Gegensatz zu anderen Guerillagruppen wie bspw. der FLN, der PLO oder auch den Vietminh.
Ferner:
Zu Punkt 2 habe ich eine andere Meinung. Natürlich verbreitete der "Sendero Luminoso" Terror, aber in jener Phase, als er noch Zulauf hatte, richtete sich dieser Terror gegen Angehörige des Staates (Richter, Polizei, Steuerbeamte) oder gegen Großgrundbesitzer. Aber als die Maoisten anfingen, nicht willfährige Bauern umzubringen, schwand die Zustimmung und die kontrollierten Gebiete wurden kleiner. D. h. der Terror half dann beim Machtausbau, als er sich nicht gegen die indigene Bauernbevölkerung richtete. Sobald man diese aber auch terrorisierte zwecks "Konditionierung", ging der Einfluss zurück. Dass es gerade der Terror gegen die Indigenen gewesen sein soll, der die Guerilla haben groß werden lassen, sehe ich im Falle Perus nicht. (Das bedeutet nun nicht, dass es in anderen Ländern ggf. nicht so gewesen sein könnte bzw. dass dort die genannte Doktrin tatsächlich zutreffend war oder ist, aber hinsichtlich Peru kann ich das nicht erkennen.)
Zu Punkt 3: Das mag sicherlich temporär zutreffend sein. Ja, man hat durchaus die willkürliche Brutalität der Staatsgewalt anfangs für die eigenen Zwecke (auch) im zielgerichteten und doch manipulativen Sinne genutzt, allerdings funktionierte diese Taktik nur bis Anfang 1983, danach war das Kippelement dieses Punktes 3 erreicht und er erfüllte sich nicht mehr.
Im Detail:
Das Problem dabei war, dass Guzmáns Plan - und er orientierte sich durchaus eng an seinem Vorbild Mao - nicht ganz aufging. Nach anfänglichem Aufmerksamkeitsgewinn (spektakuläre Attacken, Bombenattentate) sollten zunächst mit neuen Sympathisanten konspirative Operationszonen geöffnet werden und aus diesen dann offen umkämpfte Guerillazonen werden. Und diese Guerillazonen sollten dann Basen für die Eröffnung weiterer Operationszonen werden usw. etc. - bis eben die Zentralmacht unterliegt. So weit zumindest die Theorie.
Seitens der Maoisten hatte man sich aber in der Praxis etwas verrechnet. Denn zunächst blieb das Militär irritierenderweise fern. Das lag daran, was man aber übersehen hatte, dass Präsident Terry dem Militär zutiefst misstraute, da dieses ihn bekanntlich zwölf Jahre zuvor abgesetzt hatte - er wollte also den Truppen keinen Blankoscheck für ein robustes Vorgehen gegen irgendwelche "Viehdiebe" (wie er sich ausdrückte) ausstellen. Und er schickte deswegen vorab Polizisten in die Unruhegebiete, die dort aber sang- und klanglos untergingen. Und der "Sendero Luminoso" war zunächst etwas ratlos, entschloss sich dann aber, seine Terrorkampagne gegen den Staat weiterzuführen, um die Staatsgewalt doch noch aus der Reserve zu locken. Erst als das ganze Theater völlig aus dem Ruder lief - und nach mehreren spektakulären Morden an Bürgermeistern und anderen hohen Beamten sowie einer Massenflucht von Regierungsvertretern aus dem Department Ayacucho im Herbst 1982 -, entschloss Terry sich doch noch zum Entsenden des Militärs und verhängte den Notstand. Die ersten Militärtransporte trafen (erst) am 23. Dezember 1982 in Ayacucho ein.
Ab diesem Zeitpunkt begann die Leidensphase der Bevölkerung durch Übergriffe des Militärs, vor allem in den sog. "Roten Zonen". Und Guzmán? Der rieb sich die Hände und ließ seine Leute vorerst abtauchen in den Anden und im Dschungel entlang von deren Ostflanke. Es schien gut zu laufen, das Militär trieb ihm ja quasi durch Grausamkeit Sympathisanten zu - die Rechnung unter Punkt 3 schien also aufzugehen. Könnte man meinen...
Und dann geschah das seltsame und unerwartete: Die Dörfer, die der "Sendero Luminoso" gezielt zurückgelassen bzw. dem Militär überlassen hatte - im Rahmen der Manipulation des Terrors -, engagierten sich wegen der Repression nicht verstärkt für die Guerilla (wie man vermuten könnte, folgt man der Logik des Punktes 3), sondern liefen prompt zum Militär über, da sie sich von Guzmán und seiner Bande verraten und in Stich gelassen sahen. Und damit hatten die Maoisten wiederum nicht gerechnet. Sie mussten also irgendwie hektisch gegensteuern. Und jetzt setzten sie umso mehr auf blanken Terror - im April 1983 massakrierten sie bekanntlich 69 Dorfbewohner in Lucanamarca. Aber das sorgte dafür, dass sie nun mit ihrem kopflosen Blutrausch erst recht den Rückhalt verloren. Final betrachtet ging Punkt 3 der Doktrin also nicht auf, ebenso wenig erbrachte der Terror gegen die Landbevölkerung den Maoisten einen Vorteil.
Insofern: Punkt 1 stimme ich nur sehr eingeschränkt zu, Punkt 2 stimme ich nicht zu und Punkt 3 hat nur eine temporäre Gültigkeit bis er sein Kippmoment erreicht hatte. (Aber wie gesagt: Nur anhand des Beispiels Peru komme ich zu dieser [subjektiven] Einschätzung, in anderen Ländern können alle drei Punkte durchaus natürlich auch zutreffen.)
Schneemann
Zitat:1. die Ausbreitung der Organisation im Geheimen und die Errichtung einer Parallelgesellschaft im Untergrund - 2. durch Terror des Leuchtenden Pfades selbst gegen die indigene Bevölkerung - 3. durch die Manipulation der Reaktionen der Regierung so dass diese ihre Gegengewalt falsch ausübteGut möglich, dass ich es tatsächlich nicht verstehe, aber ich kann dir dennoch bei den drei genannten Punkten, zumindest bezogen auf das Fallbeispiel Peru, nicht ganz folgen.
Der wesentlichste Punkt für den Erfolg des leuchtenden Pfades und vieler anderer Guerilla ist dabei der Punkt 2. Und hier verstehst du offenkundig nicht was ich da meine und damit auch nicht was die Hauptauffassung der französischen Doktrin ist. Ich versuch es noch mal...
Zu Punkt 1 gilt es zu sagen, dass die Guerilla des "Sendero Luminoso" genau genommen keine richtige Parallelgesellschaft war, dazu waren sie insgesamt viel zu wenige als dass man von einer geheimen Gesellschaft im Untergrund hätte sprechen können. Die Angehörigen dieser Gruppe waren zwar äußerst konspirativ und verschwiegen, aber vermutlich zählten die direkten Anhänger Guzmáns - wie du auch selbst im zweiten Beitrag angemerkt hast - nie mehr als 500 bis 800 Personen, auch der Waffenbestand war relativ überschaubar (bezogen auf Schusswaffen; die meisten Gewaltakte wurden auch mit Keulen, Messern etc. oder entwendetem Dynamit aus den Bergwerken Perus begangen). Diese Gruppierung stand bzgl. Größe und Bewaffnung somit in deutlichem Gegensatz zu anderen Guerillagruppen wie bspw. der FLN, der PLO oder auch den Vietminh.
Ferner:
Zitat:Nehmen wir deine Aussage, dass der leuchtende Pfad Diebe bestrafte. Das tat er nicht wirklich...Doch, das tat er. Es gibt Berichte aus der Zeit um 1980/81, wo gezielt Viehdiebe öffentlich (bzw. für eine Bauerngemeinde sichtbar) getötet wurden. Und die ländliche Bevölkerung war darüber durchaus froh, denn bislang hatte die Staatsmacht sich um ihre Belange, also wenn sie einen Viehdiebstahl meldeten, so gut wie gar nicht gekümmert (oder konnte sich nicht kümmern). Und nach 1980 und nach der Rücknahme der Agrarreformen des Militärs, was bei der Landbevölkerung zu erheblichem Unmut führte, hatte sich der Staat in den Augen von nicht wenigen diskreditiert. Es fiel der Guerilla also recht leicht, hier Sympathien zu wecken - ohne dass man großartige Terrorakte gegen diese Indigenen begeht. Das wäre auch kontraproduktiv gewesen.
Zitat: In größeren Dörfern und Kleinstädten spionierte man sogar vorher explizit aus, wer von der Bevölkerung mehrheitlich nicht gemocht wurde / wer von vielen Nachbarn gemobbt wurde und dergleichen und dann wurden gezielt diese Personen in öffentlichen Scheinprozessen "verurteilt" und dann zur Freude der Bevölkerung öffentlich umgebracht.Das ist schon richtig, aber diese Vorgehensweise griff erst um sich, als die Guerillatätigkeit ihren Höhepunkt erreicht hatte (ab 1982/83). Für den "Aufbau" der Guerilla war diese Taktik jedoch nicht erforderlich oder entscheidend bzw. man findet vor 1980 nur sehr wenige Bsp. dazu.
Zu Punkt 2 habe ich eine andere Meinung. Natürlich verbreitete der "Sendero Luminoso" Terror, aber in jener Phase, als er noch Zulauf hatte, richtete sich dieser Terror gegen Angehörige des Staates (Richter, Polizei, Steuerbeamte) oder gegen Großgrundbesitzer. Aber als die Maoisten anfingen, nicht willfährige Bauern umzubringen, schwand die Zustimmung und die kontrollierten Gebiete wurden kleiner. D. h. der Terror half dann beim Machtausbau, als er sich nicht gegen die indigene Bauernbevölkerung richtete. Sobald man diese aber auch terrorisierte zwecks "Konditionierung", ging der Einfluss zurück. Dass es gerade der Terror gegen die Indigenen gewesen sein soll, der die Guerilla haben groß werden lassen, sehe ich im Falle Perus nicht. (Das bedeutet nun nicht, dass es in anderen Ländern ggf. nicht so gewesen sein könnte bzw. dass dort die genannte Doktrin tatsächlich zutreffend war oder ist, aber hinsichtlich Peru kann ich das nicht erkennen.)
Zu Punkt 3: Das mag sicherlich temporär zutreffend sein. Ja, man hat durchaus die willkürliche Brutalität der Staatsgewalt anfangs für die eigenen Zwecke (auch) im zielgerichteten und doch manipulativen Sinne genutzt, allerdings funktionierte diese Taktik nur bis Anfang 1983, danach war das Kippelement dieses Punktes 3 erreicht und er erfüllte sich nicht mehr.
Im Detail:
Das Problem dabei war, dass Guzmáns Plan - und er orientierte sich durchaus eng an seinem Vorbild Mao - nicht ganz aufging. Nach anfänglichem Aufmerksamkeitsgewinn (spektakuläre Attacken, Bombenattentate) sollten zunächst mit neuen Sympathisanten konspirative Operationszonen geöffnet werden und aus diesen dann offen umkämpfte Guerillazonen werden. Und diese Guerillazonen sollten dann Basen für die Eröffnung weiterer Operationszonen werden usw. etc. - bis eben die Zentralmacht unterliegt. So weit zumindest die Theorie.
Seitens der Maoisten hatte man sich aber in der Praxis etwas verrechnet. Denn zunächst blieb das Militär irritierenderweise fern. Das lag daran, was man aber übersehen hatte, dass Präsident Terry dem Militär zutiefst misstraute, da dieses ihn bekanntlich zwölf Jahre zuvor abgesetzt hatte - er wollte also den Truppen keinen Blankoscheck für ein robustes Vorgehen gegen irgendwelche "Viehdiebe" (wie er sich ausdrückte) ausstellen. Und er schickte deswegen vorab Polizisten in die Unruhegebiete, die dort aber sang- und klanglos untergingen. Und der "Sendero Luminoso" war zunächst etwas ratlos, entschloss sich dann aber, seine Terrorkampagne gegen den Staat weiterzuführen, um die Staatsgewalt doch noch aus der Reserve zu locken. Erst als das ganze Theater völlig aus dem Ruder lief - und nach mehreren spektakulären Morden an Bürgermeistern und anderen hohen Beamten sowie einer Massenflucht von Regierungsvertretern aus dem Department Ayacucho im Herbst 1982 -, entschloss Terry sich doch noch zum Entsenden des Militärs und verhängte den Notstand. Die ersten Militärtransporte trafen (erst) am 23. Dezember 1982 in Ayacucho ein.
Ab diesem Zeitpunkt begann die Leidensphase der Bevölkerung durch Übergriffe des Militärs, vor allem in den sog. "Roten Zonen". Und Guzmán? Der rieb sich die Hände und ließ seine Leute vorerst abtauchen in den Anden und im Dschungel entlang von deren Ostflanke. Es schien gut zu laufen, das Militär trieb ihm ja quasi durch Grausamkeit Sympathisanten zu - die Rechnung unter Punkt 3 schien also aufzugehen. Könnte man meinen...
Und dann geschah das seltsame und unerwartete: Die Dörfer, die der "Sendero Luminoso" gezielt zurückgelassen bzw. dem Militär überlassen hatte - im Rahmen der Manipulation des Terrors -, engagierten sich wegen der Repression nicht verstärkt für die Guerilla (wie man vermuten könnte, folgt man der Logik des Punktes 3), sondern liefen prompt zum Militär über, da sie sich von Guzmán und seiner Bande verraten und in Stich gelassen sahen. Und damit hatten die Maoisten wiederum nicht gerechnet. Sie mussten also irgendwie hektisch gegensteuern. Und jetzt setzten sie umso mehr auf blanken Terror - im April 1983 massakrierten sie bekanntlich 69 Dorfbewohner in Lucanamarca. Aber das sorgte dafür, dass sie nun mit ihrem kopflosen Blutrausch erst recht den Rückhalt verloren. Final betrachtet ging Punkt 3 der Doktrin also nicht auf, ebenso wenig erbrachte der Terror gegen die Landbevölkerung den Maoisten einen Vorteil.
Insofern: Punkt 1 stimme ich nur sehr eingeschränkt zu, Punkt 2 stimme ich nicht zu und Punkt 3 hat nur eine temporäre Gültigkeit bis er sein Kippmoment erreicht hatte. (Aber wie gesagt: Nur anhand des Beispiels Peru komme ich zu dieser [subjektiven] Einschätzung, in anderen Ländern können alle drei Punkte durchaus natürlich auch zutreffen.)
Schneemann