07.02.2024, 23:41
Zitat:möglicherweise ist diese "Stammesjustiz" in der örtlichen Gesellschaft mehr verwurzelt als unser "System Rechtsstaat".
Es ist gerade eben keine Stammesjustiz oder die simple Fortführung vorislamischen Rechtes, welche die Taliban so erfolgreich gemacht hat, sondern ihr Versuch tatsächlich das Stammesrecht und teilweise Clan- und Familienrecht durch eine einheitliche Interpretation der Scharia zu ersetzen, die dann für alle gleich gilt.
Gerade deshalb hatte ich intentional das zweite Video zu dem Dorfgericht vernetzt. Darin geht es um den Fall einer jungen Witwe welche nach dem Tod ihres Mannes bei ihrem Vater leben will, die Brüder des Verstorbenen Manners aber beanspruchen sie und wollen sie zwingen einen der ihren zu heiraten. Das war und ist in Afghanistan seit Jahrhunderten Stammesjustiz. Die Witwe eines Mannes gehört seinem Bruder, in einem de facto sklavenähnlichen Verhältnis.
Und der Talibanrichter erklärt nun dazu Scharia-Konform, dass die junge Frau selbst entscheiden darf ob sie den Bruder heiratet und wenn sie dies nicht will darf sie bei ihrem Vater leben.
Und das ist nicht gestellt, nicht für westliche Reporter inszeniert, es steht so in der Scharia wie sie die Taliban anwenden geschrieben. Genau so wie man vorher einen jungen Mann vor laufender Kamera praktisch gesehen foltert um ihn zu einem Geständnis zu zwingen dass er gestohlen hat.
Die Taliban bieten mit der Scharia praktisch gesehen einen Rechtsstaat, welcher stammesübergreifend einheitliches Recht anbietet. Und damit haben die Taliban per definitionem einen Rechtsstaat geschaffen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rechtsstaat
Zitat:Ein Rechtsstaat ist ein Staat, der einerseits allgemein verbindliches Recht schafft und andererseits seine eigenen Organe zur Ausübung der staatlichen Gewalt an das Recht bindet.
Etwas was es vorher so nicht gab und was auch und insbesondere der von uns geschaffene Staat Afghanistan nicht geboten hat, aufgrund von zu viel Korruption, Nepotismus usw.
Desweiteren ist Afghanistan massivst gespalten zwischen den Menschen in den Großstädten und der ländlichen Bevölkerung. Das ist eine Spaltung von der Kultur und Lebensweise her die viel krasser ist als es die meisten hierzulande verstehen. Die Taliban müssen nun beide Seiten irgendwie berücksichtigen. Wenn sie beispielsweise Frauenrechte einräumen, weil die Afghanen in den Städten dies gutheißen, führt dies sofort zu massivsten Widerstand auf dem Land bis hin zu letaler Gewalt. Unterdrücken sie die Frauen, führt dies zu Kritik und Widerstand in den Städten.
Ironischerweise ist beispielsweise ein Vorwurf den Taliban in Afghanistan oft hören, dass sie den Frauen zu viele Rechte einräumen und dass sie zu sehr für Frauen wären ! Das wird in Afghanistan auf dem Land mehr als Vorwurf erhoben als umgekehrt der Vorwurf, sie würden die Frauenrechte zu sehr einschränken.
Die stehen also vor dem praktischen Problem unvereinbare Positionen und Kulturen und Stämme irgendwie zusammen zu halten. Dies geht nur mit viel Gewalt, viel Unfreiheit und indem man irgend etwas anbietet was beide Seiten nicht ablehnen können und dass ist im Falle Afghanistans halt die Scharia. Denn dann kann man dem Stadtmenschen genau so wie den letzten Hinterwäldlern aus abgelegenen Tälern gleichermaßen erklären: seht es steht so im Koran und in der Scharia, also müsst ihr das so tun.
Deshalb halte ich dies tatsächlich für die einzige reale praktische Möglichkeit in Afghanistan halbwegs so etwas wie Frieden und Stabilität zu erzeugen. Jedweder aufgeklärte westliche Staat würde hier nur sofort dazu führen, dass alle Stämme und Clans wieder aufeinander losgehen und alles in Bürgerkrieg und Blutvergießen versinkt.
Das scharfe Schariarecht der Taliban erfüllt damit eine wesentliche soziale Funktion für den Zusammenhalt aller Afghanen und für das funktionieren von Afghanistan als Staat.
Zitat: ich frage mich, ob das dauerhaft ist.
Das hängt davon ab, ob die Hazara sich einordnen und mit der Zeit paschtunisieren lassen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Paschtunisierung
Aber selbst im Hazaradschat sprechen inzwischen viele junge Hazara zunehmend paschtunisch (zumindest sprechen sie ihre eigene Sprache nicht mehr, sondern stattdessen Dari) und auch sonst gleichen sich Sitten und Kultur an. Verbleibt die Frage der Religion. Es sind aber nicht alle Hazara Schiiten, es gibt auch eine sunnitische Minderheit unter ihnen. Und die wird von den Taliban aktuell in jeder Weise gefördert.
Und warum? Um das in diesem Kontext noch mal zu betonen: die Taliban sind Radikal-Islamisten, aber sie sind zugleich halt auch afghanische Ultra-Nationalisten. Wobei für sie natürlich Afghane und Paschtune identisch ist, was ja auch historisch der Fall war.
Ein weiterer Grund warum die Taliban nicht so wie früher auf die Hazara losgehen - obwohl es durchaus jede Menge Diskriminierung und dergleichen gibt - und umgekehrt sich die Hazara für die Taliban öffen liegt darin, dass der Islamische Staat in Afghanistan viele sehr blutige Anschläge und Morde gegen Hazara ausgeführt hat. Die Taliban aber sind ein Todfeind des IS und rotten diesen in Afghanistan mit geradezu atemberaubender Gewalt aus. Das hat viele junge Hazara zum Umdenken gebracht, als die Taliban ganz offen die Anschläge des IS auf schiitische Hazara scharf verurteilten.
Langfristig wollen die Taliban natürlich einfach die Bekehrung der Hazara zum sunnitischen Islam und wirken in diese Richtung. Aber um dieses Ziel endlich zu erreichen gehen sie halt heute wesentlich geschickter vor als in früheren Zeiten. Die Taliban haben sich im Vergleich zu vor der Invasion Afghanistans deutlich verändert. Was sie meiner Ansicht nach gefährlicher macht. Heute kommunizieren die Taliban auf Facebook und X in englischer Sprache. Unter Mohammed Omar wäre man dafür noch etwaig geötet worden. Es gibt heute sogar vereinzelt Schiiten in der Führung der Taliban aus den Reihen der Hazara, dass wäre früher vollkommen undenkbar gewesen. Absolut undenkbar. Und heute gibt es schiitische Taliban obwohl dies vollkommen konträr zu allem ist was die Taliban Ideologie ausmacht. Frauen können heute auch mit dem Niqab anstelle der Burka herum laufen, wäre früher undenkbar gewesen. In den Städten laufen auch immer noch Frauen mit Hidschab herum, früher undenkbar. Heute werden Männer die ihre Frauen schwer misshandeln oder töten verurteilt, früher undenkbar. Man verstümmelt und foltert auch selbst nicht mehr so leichtfertig wie zu Zeiten Mohammed Omars und bemüht sich tatsächlich um eine funktionierende Regierung des Landes. Man toleriert illegale Mädchenschulen, auch wenn man darauf beharrt dass sie illegal sind. Früher undenkbar, da wurden Lehrerinnen von Mädchen gefoltert und niedergemacht. Heute schicken Taliban selbst ihre Töchter auf illegale Schulen und man tut einfach so als gäbe es sie nicht usw. usw.
Die sind also heute deutlich komplexer, aber auch deutlich fähiger und geschickter als sie es in ihren frühen Steinzeit-Islam Zeiten waren.