04.03.2024, 19:00
“Quintus Fabius“ schrieb:Israel sollte sich zuvorderst als ein Befreier der Palästinenser von dieser Terrorgruppe verstehen und auch so präsentieren. … Das Ziel müsste es sein, die Palästinenser von der Hamas zu befreien.Ich könnte jetzt wieder viele einzelne Details aufdröseln, aber das ist eben der entscheidende Punkt an den Erwartungen der Weltgemeinschaft und Israelische Absichten auseinandergehen. Mein Eindruck ist, dass es in der israelischen Politik, Medien und genauso auch Gesellschaft keine ernstzunehmende Absicht gibt, den Palästinensern in Gaza entgegenzukommen und zu helfen. Man muss schon sehr, sehr weit politisch links schauen um am Rand des politischen Spektrums noch auf ein Sentiment zu treffen, dass für mehr Raum lässt als die Überzeugung, das mit Menschen auf der anderen Seite nichts mehr anzufangen ist. Entsprechend besteht eine für uns bemerkenswerte Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der palästinensischen Zivilbevölkerung in diesem Krieg.
Mir scheint, dass wir im Westen die aus den Massakern des 7. Oktober resultierende Verschiebung der gesellschaftlichen Grundeinstellung in Israel zu der Palästinenserfrage nicht wahrnehmen bzw. nicht wahrnehmen wollen. Wir verkennen was da zu Bruch gegangen ist. Wir tun in unserem politischen Gebaren noch immer so, als habe sich letztlich nichts geändert und bespielen die ausgeleierte Klaviatur der politischen Lösung des Konfliktes einfach weiter, ohne zu verstehen bzw. verstehen zu wollen, dass sich der politische Diskurs in Israel davon sehr deutlich emanzipiert hat.
Nun kann man diese Entwicklung kritisieren und für falsch halten, es hilft aber nicht weiter sie zu ignorieren und einfach politische oder militärische Maßnahmen zu fordern, die wenigstens aktuell deutlich jenseits des politischen Handlungshorizontes liegen. Oder um es auszuformulieren: die israelische Gesellschaft möchte (und da schauen wir nicht in Richtung weiter rechts geschweige denn rechtsextrem, die alle noch ganz andere Dinge möchten) die Geiseln möglichst lebend zurück, jeden Hamas Anhänger töten der sich irgendwo blicken lässt und wieder Sicherheit haben. Was sie unter Garantie nicht will ist irgendein langes Abenteuer in Gaza, in dem hauptsächlich ihre Väter als Reservisten in Gaza Nation Building betreiben und sich mit Terrorgruppen einen aussichtlosen Kleinkrieg liefern.
Das kann man dann für kurzsichtig halten und lang und breit herausarbeiten, dass man die Hamas so nicht wegbekommen wird, aber das ist die Realität, der sich die Israelische Politik nunmal unterwerfen muss. Das ist meine ich ein Punkt der bei dir zu kurz kommt. Israel ist eine dynamische um nicht zu sagen volatile Demokratie, mit flachen Hierarchien, ausgeprägter Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten und einer Armee, die sich nahezu vollständig auf Wehrpflichtige und Reservisten abstützt. Keine Regierung kann hier in großen Sicherheitspolitischen Fragen länger gegen den gesellschaftlichen Willen agieren, erst recht nicht wenn dieser Kurs dann noch sehr direkt und unmittelbar mit Israelischen Blut bezahlt werden muss. Netanyahu ist dann aktuell mit seiner speziellen Truppe sowieso in einer Situation in der er wenig bis kein Kapital für irgendwelche kühnen Manöver hätte, die von der breiten Gesellschaft so nicht getragen werden. Nebenbei bemerkt ist es auch nicht hilfreich, wenn ihn die internationalen Partner auch noch angehen und an liebsten stürzen möchten, das schränkt seinen Handlungsrahmen innenpolitisch nur noch weiter ein.
Ein weiterer Punkt den man in diesem Zusammenhang neben vielen anderen vielleicht einmal betonen muss: Der Ansatz die Palästinenser von der Hamas befreien zu wollen verlangt von Israel sehr wahrscheinlich mehr als es zu leisten vermag. Wie skizziert gibt es dafür innenpolitisch keinen Kredit. Von außen auch nicht, weil die Begleiterscheinungen ‚unerträglich‘ wären. Es ist aber einem gewissen Punkt aber auch schlicht eine Ressourcenfrage. Israel hat kaum die Kapazitäten im Gazastreifen über Jahre hinweg wenigstens ein halbes Dutzend Brigaden zu stationieren um die Hamas dort niederzuhalten und die Öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Wir sehen es schon jetzt, dass man die Reservisten kaum mehr als 3 Monate unter Waffen halten wollte, das ist definitiv nicht auf Jahre hinaus darstellbar, zumal die Situation im Norden noch substantiell mehr Kräfte binden wird. Es wäre da angesichts des über kurz oder lang bevorstehenden Waffengangs gegen die Hisbollah Harakiri den Großteil der Reserveverbände wieder auf COIN / Nation Building in Gaza auszurichten.
Und das sind nur mittelbare Kosten. Ein Wiederaufbau & Entnazifizierung des Gazastreifens würde Unsummen kosten. Die mokierst dich darüber, dass der israelische Plan vorsieht die Kosten dafür nicht selbst zu übernehmen. Nun sollen die da ihre Reservisten in Gaza rumturnen lassen, die Palästinenser schikanieren und dafür am laufenden Band wenigstens kritisiert zu werden und am besten auch noch dafür zahlen? Vor dem Hintergrund, dass ihr GDP durch den Krieg um geschmeidige 19 Prozent eingebrochen ist und mittelfristig erheblich mehr Mittel ins Militär fließen werden? Angesichts der durchaus erheblichen sozialen Schieflage im Laden und hohen Lebenshaltungskosten? Hochtrabende Pläne sind schnell formuliert, aber Israel kann nicht einfach an den Palästinensern die alliierte Besatzungspolitik 45 bis 49 nachspielen. Das ist einfach außerhalb ihrer Möglichkeiten. Zumal der Vergleich natürlich auf beiden Beinen hinkt und sich das Ganze so oder so eher in Richtung Irak und Afghanistan entwickeln würde als Bundesrepublik.
Insofern, der angerissene / verrissene Plan orientiert sich an dem was möglich ist. Und das mag uns dann gefallen oder nicht, neben der Zerschlagung der Wehrfähigkeit der Hamas und der Wiederherstellung der Abschreckung ist die Bestrafung der Zivilbevölkerung als dritte Säule ihrer Strategie durchaus ein Aspekt der hier nach meinen Dafürhalten eine Rolle spielt. Nicht die zentrale Rolle, aber es gehört dazu.
Dazu müssen wir verstehen das Israel keine westliche Nation im engeren Sinne ist. Die sind dort zwar weitestgehend westlich geprägt, aber die aus der jüdischen Kultur bzw. Religion entstammenden Weltanschauungen, Moral- und Wertvorstellungen sind eben nicht deckungsgleich mit unserem postheroischen und postchristlichen Verständnis in der westlichen Welt. Beziehungsweise nicht mehr. Die Schere geht hier über die Jahrzehnte zusehends auseinander.
Israel war früher deutlich säkularer und europäischer geprägt, allerdings gibt es mit dem langfristig zunehmenden Einfluss der Mizrachim auf Kosten der Ashkenazen, dem wachsende orthodoxe Bevölkerungsteil, der Desillusionierung und dem daraus wachsenden Rassismus, der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion seit Jahrzehnten usf. einen Megatrend weg von unseren west/europäischen Weltvorstellungen. Das wir hier im Westen mit Höchstgeschwindigkeit auch noch in die entgegengesetzte Richtung galoppieren tut ein Übriges.
Will heißen, ein zunehmend nahöstlicheres und religiöseres Israel führt hier vielleicht zum ersten Mal in seiner Geschichte einen Feldzug, der sich vielleicht nicht mehr völlig mit unseren zunehmend exotischen Vorstellungen verträgt, stattdessen aber mehr ihrer eigenen Verfasstheit und den in ihrer Region vorherrschenden Normen entspricht. Das hier auch der arabische Bevölkerungsanteil nach den Massakern ein hartes Vorgehen gegen die Hamas befürwortet verstärkt diese Entwicklung noch.
Teil dieser Entwicklung ist dann nun auch, dass wenigstens eine relative Mehrheit der israelischen Gesellschaft nach dem 7. Oktober durchaus eine Bestrafung um der Bestrafung willens wenigstens unterschwellig gutheißt. Und infolgedessen dem im Zuge der Militäraktion ausgelösten Leid gleichgültig wenn nicht mit Genugtuung begegnet. Wie gesagt, uns mit unserer postheroischen Kultur mag der Gedanke nach Bestrafung/Vergeltung/Rache am wenn man so will Tätervolk fremd vorkommen (wobei immer noch offen ist wie in einem ähnlichen Szenario der Mob hier reagiert) und auf Ablehnung stoßen, in einem jüdischen und zunehmend jüdisch-orthodoxen, oder um mal einen anderen beladenen Begriff reinzuwerfen, israelitischen Wertekanon ist es nicht überraschend, das diesem unterschwelligen (rechts der Mitte eh kaum verhohlenen) Bedürfnis soviel Raum eingeräumt wird, dass es sich auch in der politischen Entscheidungsfindung nach dem 7. Oktober niederschlägt. Das kann man kritisieren, ist aber nun mal Teil der Realitäten dort.
Ein Stück weit ist das auch wohlkalkuliert. Innenpolitisch ist man staatlicherseits aus den skizzierten Gegebenheiten fast schon gezwungen hart zuzulangen. Verzichtet man darauf riskiert die staatliche bzw. politische Führung und va das Sicherheitsestablishment gegenüber der Öffentlichkeit und erst recht breiteren Schichten des Volkes einen erheblichen Legitimationsverlust und damit einhergehend die Kontrolle über den Konflikt. Es ist dort eben keine ausgemachte Sache, dass das Gewaltmonopol noch immer in weitesten Teilen sehr eindeutig bei Staat und Militär liegt. Wir mokieren uns da regelmäßig über irgendwelche freidrehenden Siedler, verkennen aber völlig, dass es auch und gerade am harten Vorgehen des israelischen Staates liegt, dass der Mob dort noch nicht das Heft des Handelns in die Hand genommen und seine Bedürfnisse innerhalb wie außerhalb staatlicher Institutionen befriedigt. Oder anders formuliert: Das es nach den 7. Oktober nicht zu Exzessen und Greul durch israelische Reservisten in Gaza gekommen ist mögen wir in unserem westlichen Weltverständnis als gegeben voraussetzen, ist aber im Grunde nicht selbstverständlich.
Wohlgemerkt, diese Beobachtungen Rechtfertigen nicht die Verbrechen irgendwelcher extremistischen Siedler und die Passivität de israelischen Staat ihnen gegenüber, es geht nur darum zu erklären warum Israel in Gaza auch jenseits militärischer Notwendigkeiten gerade so (hart) handelt.
Und zuletzt ein Teilpunkt der auch noch gewisse Relevanz hat, während wir hier im Westen dieses Mindset vielleicht nicht verstehen bzw. wahrhaben wollen – das noch wesentlich archaischere Gegenüber versteht die Bestrafung als Kommunikationsform wenigstens unterschwellig ganz bestimmt. Du schreibst da von einem Sieg der Hamas und übertragen, dass es danach wieder so weiter geht wie zuvor. Ich bin mir da nicht so sicher. ‚Was wir in den nächsten Tagen unseren Feinden antun werden, wird für Generationen widerhallen.‘ hat Netanyahu im Oktober verkündet. Ich denke da ist einiges dran. Vielleicht nicht jetzt, sofort und unmittelbar, aber ganz ähnlich wie in den ausgebombten deutschen Städten könnte sich auch in der Bevölkerung Gazas die Erkenntnis durchsetzen, dass die bedingungslose Unterstützung der Hamas nicht die beste Idee gewesen ist und eine Neuauflage des Terrors nur zu einer Wiederholung der Performance führen wird. Das gilt es einfach abzuwarten. Ich bin jedenfalls nicht rassistisch genug um mich darauf festzulegen, dass denen diesbezüglich niemals ein Licht aufgehen wird.
Beschließend, im Oktober letzten Jahres hat Thomas Friedman das in einem seiner wenigen lesbaren NYT Artikel ‚Why Israle is acting this way‘ schön am Beispiel des zweiten Libanonkrieges herausgearbeitet bzw. vorhergesagt das man in Gaza hart vorgehen wird und eben nicht daran interessiert ist hier nachhaltig irgendetwas zu lösen oder aufzubauen. Friedmann zitiert Ehud Barak dabei mit dem sehr treffenden Satz: „because if push comes to shove, we are willing to play by the local rules. Have no illusions about that. You will not outcrazy us out of this neighborhood.“
Da sehen wir jetzt. Militärisch nicht wirklich in den Form die ich gerne gesehen hätte, aber doch deutlich robuster als man es vor dem Krieg hätte erwarten können.