15.08.2024, 03:39
(14.08.2024, 22:32)Quintus Fabius schrieb: Ethnizitätsbegründungen entbehren dort ja jedweder objektiven Grundlage und folgen allein völlig irrationalen Motiven und Gründen. Es fasziniert mich in diesem Kontext übrigens seit langem, wie sehr dieser ganze völlig irrelevante Unfug in Bezug auf genetische Abstammung und Gene in Israel so viel Anklang findet und viele Israelis und vor allem auch Juden in Amerika usw. sich sehr dafür interessieren. Das ist ein völkisches / ethnisches Denken, welches schlussendlich völlig irrational und überkommen ist, für diese Personengruppen aber immer noch eine hohe Bedeutung hat. Deshalb kann und darf der Feind natürlich in keinster Weise die gleichen Vorfahren haben und hat man selbst umgekehrt sein Blut immer rein gehalten usw.Der jüdische Glauben hat nun mal eine quasi-ethnische Komponente und bezieht ein Gutteil seiner Identität aus der biblischen Erzählung der israelitischen Geschichte. Nach der Thora sind die Juden das auserwählte Volk, nicht die auserwählte Religion. Gott schloss einen Bund mit einem Volk, nicht mit seinen Anhängern.
Vermittelt wird das Judentum matrilinear durch Geburt. Die orthodoxeren Strömungen bezweifeln, dass Männern ein Übertritt zum Judentum möglich ist (einer der Gründe dafür, dass das Judentum – anders als die übrigen abrahamitischen Religionen – niemals eine echte Missionstätigkeit entfaltet hat). Ähnliches gilt für den Austritt; die meisten orthodoxen Rabbis vertreten, dass das Kind einer jüdischen Mutter zwar das Glauben an Gott einstellen, aber aus dem Judentum so wenig austreten könne, wie es seine Mutter wechseln kann.
Schön die Römer haderten mit der jüdischen Identität, der ihnen die Kontrolle über Judäa erschwerte, und ihr Hader entlud sich in einem der ersten Genozide der Geschichte. Man mag diese Konzepte heute für irrational und überkommen halten, und wahrscheinlich sind sie das auch; aber ebenso irrational wäre es, ihre Aufgabe zu verlangen. Es wäre ungefähr so, als würde man von Christen erwarten, ihre zentralen Glaubenssätze über Bord zu schmeißen.
Ich möchte außerdem betonen, dass Antisemiten weltweit Menschen jüdischen Glaubens in diese doppeldeutige Sonderrolle geradezu drängen. Seit der Gründung des Staates Israel werden Juden weltweit als Vertreter Israels und seiner Regierung angefeindet, ganz egal, ob sie an Gott glauben, welche Staatsangehörigkeit sie besitzen oder wie sie zu Israel und seiner jeweiligen Regierung stehen.
Die meisten amerikanischen Juden bspw. stammen von Exilanten und Vertriebenen ab, die vor der Gründung Israels infolge der Pogrome im russischen Reich bzw. infolge des NS-Terrors aus Europa abgewandert waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Holocaust-Überlebende hinzu. Viele dieser Menschen haben keine Beziehungen zu Israel, werden aber trotzdem beim Betreten amerikanischer Universitäten von sogenannten Aktivisten bedrängt und als "Völkermörder" beschimpft. Wie könnten sie da nicht verinnerlichen, dass sie Angehörige einer Gruppe sind – ja, sein müssen –, die sich durch mehr definiert als bloß den Namen ihres Gottes?
Aber auch schon vorher wurden die Juden – auch ohne eigenes Zutun – als Volk und monolithische Entität betrachtet, was sich für Zeitgenossen früherer Tage ebenfalls aus der Bibel bzw. aus dem Koran ergab. Während z.B. die mittelalterlichen Europäer früh zu unterscheiden lernten, dass es nicht nur "die Mohammedaner" gab, behandelten sie ihre jüdischen Minderheiten spätestens ab dem frühen Hochmittelalter gleich (schlecht) so, als gäbe es keinen Unterschied zwischen Abraham aus Köln und Avram aus Kiew.
Man könnte sogar sagen, dass Europäer an eine jüdische Nation glaubten, bevor sich überhaupt der Nationalstaatsgedanke bei ihnen selbst entfaltet hatte.
In Anbetracht all dessen ist es nicht verwunderlich, dass die Israelis ihr Eigentum und Besitzrecht am historischen Land Palästina durch Abstammung herleiten.
Wobei ich behaupten möchte, dass dies für die Lösung des Konflikts keine so große Rolle spielt, wie es scheinen könnte. Israels extreme Rechte, die einen unversöhnlichen Zionismus vertritt, bekam bei den Wahlen 2022 24,97%, bei einer Wahlbeteiligung von 70,63% (bereinigt dann 17,52%). Es stimmte also nicht mal jeder fünfte Israeli für eine extrem rechte Partei. Für eine funktionierende Demokratie ist das natürlich immer noch ein bedenklich hoher Wert, zeigt aber auch, dass die Dinge anders laufen könnten, wenn Netanjahu faktische Splittergruppen nicht ins Rampenlicht zerren müsste, um überhaupt noch Koalitionspartner zu finden.