24.08.2024, 01:25
(23.08.2024, 20:26)Helios schrieb: […] ist eine direkte Folge von eben jenem und völlig losgelöst vom formalen Status rechtens.Man kann es nicht oft genug betonen. Ich dachte, mich trifft der Schlag, als selbst das 'Nachgefragt'-Format der Bundeswehr auf Youtube sich "aufgrund der vielen Nachfragen" genötigt sah klarzustellen, dass die Ukraine durch den Kursk-Vorstoß keineswegs zum Aggressor wird.
(23.08.2024, 22:50)Hinnerk2005 schrieb: Nachfrage zu Helios Post. Wenn es kaum noch einen juristischen Unterschied macht ob Kriege erklärt werden oder nicht, wie kann man dann durch einen de facto stattfindenden Krieg der eben nicht erklärt wurde die "völkerrechtlichen negativen Konsequenzen" meiden?Man kann es nicht. Das Völkerrecht will nichts weniger, als dass Regierungen sich ihrer Verantwortung entziehen können, indem sie Etikettenschwindel betreiben und einen offenkundigen Krieg eine "Polizeiaktion" oder dergleichen Blödsinn nennen.
Das Völkerrecht stellt deshalb auf den tatsächlichen Zustand ab und nicht auf die Deutung des Zustands durch Regierungen.
Die entfaltet allein im Innenverhältnis eine gewisse Wirkung, siehe z.B. die Neubewertung des Afghanistaneinsatzes in Deutschland. (Durch sie änderte sich nur, welches nationale Recht – StGB oder VStGB – deutsche Gerichte auf deutsche Soldaten anzuwenden hatten. Andere Staaten und internationale Organisationen hielten den Bundeswehreinsatz schon lange vorher für einen bewaffneten Konflikt, es brauchte nicht erst Guttenbergs Geistesblitz, um ihn zu einem solchen zu machen.)
Der Verzicht auf eine Kriegserklärung hat im auswärtigen Bereich heute allenfalls noch symbolische Bedeutung; der angreifende Staat will nicht als Aggressor gelten und ggf. den Verbündeten des Staates, gegen den man Krieg führt, keinen hochoffiziellen Grund geben, sich in den Krieg einzumischen.
Wirklich interessant ist der Verzicht auf eine Kriegserklärung nur noch im Innenverhältnis. Warum vermeidet bspw. Russland die Kriegserklärung?
Erstens: Man bildete sich ernsthaft ein, die Ukraine binnen dreier Tage zu unterwerfen. Danach den Krieg zu erklären, wäre ein Eingeständnis von Schwäche vor dem eigenen Volk gewesen.
Zweitens: Durch eine Kriegserklärung würden viele russische Gesetze und Teile der Verfassung außer Kraft gesetzt, wodurch auch die letzten Reste von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland verschwänden. Alle Macht, auch die Befugnisse der autonomen Teilrepubliken, würden sich im Kreml konzentrieren. Man kann sich vorstellen, wie z.B. die mit Mühe befriedeten Tschetschenen auf das Ende ihrer inneren Autonomie reagieren würden.
Spätestens nach der Kriegserklärung wäre Putin also das, was zu sein er immer verleugnet hat: ein Diktator. Aber: Dann würde auch alle Verantwortung bei ihm liegen. Für das Kursk-Fiasko z.B. könnte er nicht mehr Gerassimow und Smirnow als die Schuldigen hinstellen, sondern er wäre der Schuldige, weil er alle Fäden in der Hand hält.
Drittens: Würde Russland den Krieg erklären, gingen damit die Mobilmachung und die Aufhebung aller Restriktionen hinsichtlich des Einsatzes von Wehrpflichtigen einher.
Gerade das will Moskau aber nicht.
Dass Putin im März 2022 die illegal dort eingesetzten Wehrpflichtigen aus der Ukraine zurückholte, war ein Rosenstraße-Moment, eines der wenigen Male, dass er sich öffentlichen Protesten beugte. Der Eindruck dieser Proteste wirkt bis heute nach, er versucht krampfhaft, den Krieg von der für ihn wichtigen westrussischen Mittelschicht fernzuhalten.
Denn es gilt als Binsenweisheit in der russischen Innenpolitik, dass jede Regierung fest im Sattel sitzt, solange die Einwohner von Piter und Nicht-aus-Gummi (Sankt Petersburg und Moskau) Ruhe geben. Dort leben die Leute, denen Putin noch aufs Maul schaut. Und die nicht an die Front sollen müssen.
Konsequenterweise kommt die große Mehrheit der russischen Gefallenen in diesem Krieg aus den Föderationssubjekten südlich von Don und Wolga, aus Baschkortostan, Tuwa, Burjatien, aus Südsibirien und Fernost (Quelle). Mit anderen Worten: Die Nicht-Slawen und die Nicht-Christen aus dem Süden und Osten müssen die Drecksarbeit erledigen, damit die wohlhabenden Slawen im Westen sich nicht gestört fühlen und nicht auf dumme Gedanken kommen.
Putin wird sich hüten, etwas daran zu ändern, solange er es nicht muss.
Fun fact: Kein Territorium der russischen Föderation hat proportional mehr Kriegstote zu beklagen als der Autonome Kreis der Nenzen. Von diesem indigenen Volk am Polarkreis lebten 2021 nur noch rund 6.500 Menschen. Die nenzische Dissidentin Nastja Lapsui behauptet, dass von diesen seit 2022 rund 900 Männer im Krieg gefallen seien. Das wären fast 14% des gesamten Volkes, und ein Großteil der Männer im wehrfähigen Alter.