16.09.2024, 17:37
Wenn man sich frühere Gesetzgebungsinitiativen anschaut, etwa unter Reagan oder Clintons (auch vor Gericht erfolgreichen) Assault Weapons Ban, wird man wohl zu dem Schluss kommen, dass der Zweite Verfassungszusatz sein jetziges Potential an politischer Sprengkraft erst im letzten Vierteljahrhundert erreicht hat. Die praktische Relevanz dürfte sehr viel geringer sein, als die Amerikaner selbst dies wahrnehmen.
Die Zahl der amerikanischen Haushalte, die mindestens eine Schusswaffe besitzen, nimmt denn auch seit Jahren ab, von 47% im Jahr 1990 auf 37% 2019. Es gibt zwar eine erhebliche Fluktuation (aktuell: 42%), aber die Spitzen in der Statistik korrelieren mit "Gun Control"-Gesetzesvorhaben oder aufwühlenden Ereignissen (wie Terroranschlägen). Übrigens korreliert Waffenbesitz kaum mit der Kriminalitätsbelastung der Wohngegend.
Insgesamt zeigt die Kurve verlässlich nach unten. Was auch die zunehmende Schärfe der Debatte erklärt: Es gibt eine Mehrheit, die den Zweiten Verfassungszusatz tendenziell für entbehrlich hält, und eine Minderheit, die fühlt, wie der Wind sich dreht, und sich entsprechend gegen die Windrichtung stemmt.
Für die gesellschaftliche Mitte spielen vor allem praktische Aspekte eine Rolle (die einen fürchten Amokläufe, die andere wollen eine Waffe zur Selbstverteidigung). Aber: Die politische Mitte ist in den USA marginalisiert. Die Gesellschaft ist derart polarisiert, dass die Ränder die Diskurshoheit über alle strittigen Themen errungen haben, so auch hier. Die Linke will die Rechte entwaffnen; die Rechte wiederum fürchtet eine tyrannische Regierung im Sinne Thomas Jeffersons (worunter sie sich natürlich eine Regierung der Linken vorstellt).
Zunächst einmal ist es demokratietheoretisch bedenklich, wenn die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte einer Minderheit öffentlich zur Disposition stehen. In diesem Sinne ist die Bewahrung des Rechts auf Waffenbesitz für die Rechte ein Demokratieindikator. Da tut es auch nichts zur Sache, dass die Rechte ihrerseits durchaus zu einem solchen Vorgehen in der Lage ist (siehe bspw. ihr Kampf gegen Roe v. Wade).
Prinzipiell ist der Zweite Verfassungszusatz auch keine schlechte Idee. Er hat aber einen Geburtsfehler: Die Gründerväter gingen von einer Konfrontation zwischen Monarch und Republikanern aus; die ideologische Diktatur der Massen war ihnen unbekannt. Dementsprechend unterschätzten sie das Missbrauchspotential. Selbst wenn man nämlich annimmt, dass eine bewaffnete Bürgerschaft als Gegengewicht zu einer "tyrannischen" Regierung nötig ist, kann dies nur gelten, solange sie sich nicht auf die Seite der Regierung stellt.
Dieser Umstand geht erkennbar über die Vorstellungskraft der amerikanischen Rechten. Viele Amerikaner glauben, die Verfassung zu verteidigen, wenn sie sich ein AR-Derivat kaufen und als Soldat verkleidet am Wochenende auf Tomatendosen schießen; aber letzten Endes wird man konstatieren müssen, dass die bewaffnete Bürgerschaft in ihrer angemaßten Rolle, Hüterin der Verfassung zu sein, versagt hat.
Denn oft blieb die Rechte untätig, wenn Bürgerrechte bedroht waren, und nicht selten stand sie auf der falschen Seite der Geschichte. Weder verhinderte sie z.B. die Jim Crow-Gesetze, noch die massenhafte Internierung von Amerikanern japanischer Abstammung im Weltkrieg; sie bedrohte die Bürgerrechtsbewegung eher, als sie zu schützen, und bejubelte die Grundrechtseinschränkungen des Patriot Act.
Ebenfalls völliger Humbug (und wohl auf ein Scheinzitat Yamamotos zurückzuführen) ist meines Erachtens die Behauptung, dass die bewaffnete Bürgerschaft eine militärische Bedeutung habe und die USA gegen auswärtige Bedrohungen schützen könne. Die vielen toten Zivilisten bei der Schlacht um Kiew haben doch wieder einmal bestätigt, dass Schießen-Können und Kämpfen-Können nicht dasselbe sind.
Um die behaupteten Funktionen zu übernehmen, bräuchte es in der Tat eine "well regulated militia", wie die Gründerväter sie beabsichtigten – ein Teilsatz, der unter dem Einfluss der Waffenlobby vom Supreme Court in logisch unzulässiger Weise aus der Gleichung gekürzt wurde.
In diesem Sinne kann der bürgerliche Waffenbesitz die Demokratie ohnehin kaum schützen; wenn es eine Regierung wirklich darauf anlegte, das amerikanische Volk zu unterdrücken, wären Armee und Strafverfolgungsbehörden problemlos dazu in der Lage, diesen Machtanspruch gewaltsam durchzusetzen.
In einem solchen Fall böte die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung gegen illegale Befehle der Bevölkerung vermutlich einen besseren Schutz als ein AR-15 im Kleiderschrank.
Der Zweite Verfassungszusatz kann in meinen Augen nur auf eine Weise eine demokratiebewahrende Wirkung entfalten, und zwar indem er das regierungskritische Individuum – nicht: die Gesellschaft – vor den Repressalien schützt, die typischerweise der Diktatur vorausgehen. Hätte z.B. Anna Politkowskaja eine Waffe gehabt, vielleicht wäre sie noch am Leben.
Aber wie dem auch sei, solange nicht eine entsprechende parlamentarische Mehrheit und eine Mehrheit am Supreme Court für strengere Waffengesetze zeitlich und personell zusammentreffen, wird es keine wesentlichen Änderungen geben. Meiner Wahrnehmung nach ist das beiden Seiten auch durchaus klar.
Das Thema dient denn auch eher der politischen Selbstvergewisserung beider Lager und dürfte nur dann einen Einfluss auf die Wahl haben, wenn Kamala Harris eine neue "Gun Control"-Initiative ankündigen sollte.
Für die amerikanische Rechte ist der Zweite Verfassungszusatz ein Fetisch, eine Projektionsfläche – ungefähr so, wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung für die deutsche Linke. Letzteres mag im Vergleich harmlos wirken, doch ist der obstruktive Bohei, den die Deutschen um den Datenschutz machen, durchaus vergleichbar: So haben wir seit einem halben Jahrhundert keinen echten Zensus mehr durchgeführt und wissen nicht, wer in diesem Land lebt. Wir haben unsere Sicherheitsbehörden derart an die Kette gelegt, dass wir auf die Mithilfe ausländischer Geheimdienste angewiesen sind, um Terroranschläge im eigenen Land zu verhindern.
Und so weiter. Die Amerikaner sind also ganz offensichtlich nicht das einzige Volk, das offensichtlich nötige und anderswo übliche Reformen unter Verweis auf abstrakte Bedenken verhindert.
Persönlich halte ich den Zweiten Verfassungszusatz für überbewertet und das übersteigerte Selbstwertgefühl vieler amerikanischer Waffenbesitzer für lächerlich, aber ich mag auch nicht in das allgemeine Geheul vieler Europäer über die amerikanischen "Waffennarren" und den Zustand der US-Demokratie einstimmen. Dieser Konflikt ist ein bloßes Symptom grundlegenderer Probleme, die auf dem Mist beider Seiten gewachsen sind, und die wir in abgewandelter Form durchaus auch diesseits des Atlantiks beobachten können.
Im Übrigen ist es wahrscheinlich allzu vereinfachend, die große Zahl an Amokläufen in den USA mit der leichten Verfügbarkeit von Schusswaffen zu erklären. Schärfere Waffengesetze würden als Sofortmaßnahme sicherlich deren Zahl senken, aber es ist zu erwarten, dass die Täter dann auf andere Tatmittel (wie Messer, Fahrzeuge) ausweichen würden.
Die amerikanische Linke hat sich derart auf "Gun Control" als einziges probates Gegenmittel eingeschossen (während die Rechte im Gegenteil noch mehr Menschen bewaffnen will), dass die Erforschung und Diskussion der gesellschaftlichen Ursachen mit einem regelrechten Tabu belegt wurde. Dabei gäbe es durchaus vielversprechende Ansätze, z.B. die nicht auf Konsensherstellung ausgerichtete Streitkultur; das Machtgefälle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern; oder auch der verbreitete Gebrauch starker Psychopharmaka.
Die Zahl der amerikanischen Haushalte, die mindestens eine Schusswaffe besitzen, nimmt denn auch seit Jahren ab, von 47% im Jahr 1990 auf 37% 2019. Es gibt zwar eine erhebliche Fluktuation (aktuell: 42%), aber die Spitzen in der Statistik korrelieren mit "Gun Control"-Gesetzesvorhaben oder aufwühlenden Ereignissen (wie Terroranschlägen). Übrigens korreliert Waffenbesitz kaum mit der Kriminalitätsbelastung der Wohngegend.
Insgesamt zeigt die Kurve verlässlich nach unten. Was auch die zunehmende Schärfe der Debatte erklärt: Es gibt eine Mehrheit, die den Zweiten Verfassungszusatz tendenziell für entbehrlich hält, und eine Minderheit, die fühlt, wie der Wind sich dreht, und sich entsprechend gegen die Windrichtung stemmt.
Für die gesellschaftliche Mitte spielen vor allem praktische Aspekte eine Rolle (die einen fürchten Amokläufe, die andere wollen eine Waffe zur Selbstverteidigung). Aber: Die politische Mitte ist in den USA marginalisiert. Die Gesellschaft ist derart polarisiert, dass die Ränder die Diskurshoheit über alle strittigen Themen errungen haben, so auch hier. Die Linke will die Rechte entwaffnen; die Rechte wiederum fürchtet eine tyrannische Regierung im Sinne Thomas Jeffersons (worunter sie sich natürlich eine Regierung der Linken vorstellt).
Zunächst einmal ist es demokratietheoretisch bedenklich, wenn die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte einer Minderheit öffentlich zur Disposition stehen. In diesem Sinne ist die Bewahrung des Rechts auf Waffenbesitz für die Rechte ein Demokratieindikator. Da tut es auch nichts zur Sache, dass die Rechte ihrerseits durchaus zu einem solchen Vorgehen in der Lage ist (siehe bspw. ihr Kampf gegen Roe v. Wade).
Prinzipiell ist der Zweite Verfassungszusatz auch keine schlechte Idee. Er hat aber einen Geburtsfehler: Die Gründerväter gingen von einer Konfrontation zwischen Monarch und Republikanern aus; die ideologische Diktatur der Massen war ihnen unbekannt. Dementsprechend unterschätzten sie das Missbrauchspotential. Selbst wenn man nämlich annimmt, dass eine bewaffnete Bürgerschaft als Gegengewicht zu einer "tyrannischen" Regierung nötig ist, kann dies nur gelten, solange sie sich nicht auf die Seite der Regierung stellt.
Dieser Umstand geht erkennbar über die Vorstellungskraft der amerikanischen Rechten. Viele Amerikaner glauben, die Verfassung zu verteidigen, wenn sie sich ein AR-Derivat kaufen und als Soldat verkleidet am Wochenende auf Tomatendosen schießen; aber letzten Endes wird man konstatieren müssen, dass die bewaffnete Bürgerschaft in ihrer angemaßten Rolle, Hüterin der Verfassung zu sein, versagt hat.
Denn oft blieb die Rechte untätig, wenn Bürgerrechte bedroht waren, und nicht selten stand sie auf der falschen Seite der Geschichte. Weder verhinderte sie z.B. die Jim Crow-Gesetze, noch die massenhafte Internierung von Amerikanern japanischer Abstammung im Weltkrieg; sie bedrohte die Bürgerrechtsbewegung eher, als sie zu schützen, und bejubelte die Grundrechtseinschränkungen des Patriot Act.
Ebenfalls völliger Humbug (und wohl auf ein Scheinzitat Yamamotos zurückzuführen) ist meines Erachtens die Behauptung, dass die bewaffnete Bürgerschaft eine militärische Bedeutung habe und die USA gegen auswärtige Bedrohungen schützen könne. Die vielen toten Zivilisten bei der Schlacht um Kiew haben doch wieder einmal bestätigt, dass Schießen-Können und Kämpfen-Können nicht dasselbe sind.
Um die behaupteten Funktionen zu übernehmen, bräuchte es in der Tat eine "well regulated militia", wie die Gründerväter sie beabsichtigten – ein Teilsatz, der unter dem Einfluss der Waffenlobby vom Supreme Court in logisch unzulässiger Weise aus der Gleichung gekürzt wurde.
In diesem Sinne kann der bürgerliche Waffenbesitz die Demokratie ohnehin kaum schützen; wenn es eine Regierung wirklich darauf anlegte, das amerikanische Volk zu unterdrücken, wären Armee und Strafverfolgungsbehörden problemlos dazu in der Lage, diesen Machtanspruch gewaltsam durchzusetzen.
In einem solchen Fall böte die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung gegen illegale Befehle der Bevölkerung vermutlich einen besseren Schutz als ein AR-15 im Kleiderschrank.
Der Zweite Verfassungszusatz kann in meinen Augen nur auf eine Weise eine demokratiebewahrende Wirkung entfalten, und zwar indem er das regierungskritische Individuum – nicht: die Gesellschaft – vor den Repressalien schützt, die typischerweise der Diktatur vorausgehen. Hätte z.B. Anna Politkowskaja eine Waffe gehabt, vielleicht wäre sie noch am Leben.
Aber wie dem auch sei, solange nicht eine entsprechende parlamentarische Mehrheit und eine Mehrheit am Supreme Court für strengere Waffengesetze zeitlich und personell zusammentreffen, wird es keine wesentlichen Änderungen geben. Meiner Wahrnehmung nach ist das beiden Seiten auch durchaus klar.
Das Thema dient denn auch eher der politischen Selbstvergewisserung beider Lager und dürfte nur dann einen Einfluss auf die Wahl haben, wenn Kamala Harris eine neue "Gun Control"-Initiative ankündigen sollte.
Für die amerikanische Rechte ist der Zweite Verfassungszusatz ein Fetisch, eine Projektionsfläche – ungefähr so, wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung für die deutsche Linke. Letzteres mag im Vergleich harmlos wirken, doch ist der obstruktive Bohei, den die Deutschen um den Datenschutz machen, durchaus vergleichbar: So haben wir seit einem halben Jahrhundert keinen echten Zensus mehr durchgeführt und wissen nicht, wer in diesem Land lebt. Wir haben unsere Sicherheitsbehörden derart an die Kette gelegt, dass wir auf die Mithilfe ausländischer Geheimdienste angewiesen sind, um Terroranschläge im eigenen Land zu verhindern.
Und so weiter. Die Amerikaner sind also ganz offensichtlich nicht das einzige Volk, das offensichtlich nötige und anderswo übliche Reformen unter Verweis auf abstrakte Bedenken verhindert.
Persönlich halte ich den Zweiten Verfassungszusatz für überbewertet und das übersteigerte Selbstwertgefühl vieler amerikanischer Waffenbesitzer für lächerlich, aber ich mag auch nicht in das allgemeine Geheul vieler Europäer über die amerikanischen "Waffennarren" und den Zustand der US-Demokratie einstimmen. Dieser Konflikt ist ein bloßes Symptom grundlegenderer Probleme, die auf dem Mist beider Seiten gewachsen sind, und die wir in abgewandelter Form durchaus auch diesseits des Atlantiks beobachten können.
Im Übrigen ist es wahrscheinlich allzu vereinfachend, die große Zahl an Amokläufen in den USA mit der leichten Verfügbarkeit von Schusswaffen zu erklären. Schärfere Waffengesetze würden als Sofortmaßnahme sicherlich deren Zahl senken, aber es ist zu erwarten, dass die Täter dann auf andere Tatmittel (wie Messer, Fahrzeuge) ausweichen würden.
Die amerikanische Linke hat sich derart auf "Gun Control" als einziges probates Gegenmittel eingeschossen (während die Rechte im Gegenteil noch mehr Menschen bewaffnen will), dass die Erforschung und Diskussion der gesellschaftlichen Ursachen mit einem regelrechten Tabu belegt wurde. Dabei gäbe es durchaus vielversprechende Ansätze, z.B. die nicht auf Konsensherstellung ausgerichtete Streitkultur; das Machtgefälle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern; oder auch der verbreitete Gebrauch starker Psychopharmaka.