18.09.2024, 02:27
(17.09.2024, 08:18)KheibarShekan schrieb: Warum auch. Solange der Konflikt in der Ukraine brennt, ist die NATO mit sich selbst und den Russen beschäftigt. Grundsätzlich ist mein Eindruck, dass global gesehen vor allem die NATO Länder hier eine russlandfeindliche Position vertreten, (in)direkt im Krieg mit Russland stehen. Global gesehen tut das der "Rest der Welt" (wow den gibt es) nicht. Weil es niemanden strategisch interessiert.Du hast implizit eine moralische Gleichrangigkeit der Konfliktparteien behauptet, da muss die Frage erlaubt sein, warum eine Konfliktpartei den Waffeneinsatz beschränkt und die andere nicht.
(18.09.2024, 00:25)Schwabo Elite schrieb: Die deutsche Kriegsführung während des WKII war eher so angelegt, dass die Barbareien an bestimmte Orte (KZs) "ausgelagert" wurden, weil das die Gesamtheit des Militärs ansonsten nicht ausgehalten hätte.Ja, siehe Posener Rede. Wobei das "Auslagern" hier relativ zu verstehen ist. Zumindest an der Ostfront war die Wehrmacht habituell in Kriegsverbrechen verstrickt. Bemerkenswert ist aber, dass die Täter der NS-Zeit eher nicht zu den jüngeren, durchdoktrinierten Jahrgängen gehörten, sondern in erster Linie zu den ~1890-1910 Geborenen. Meines Erachtens wird man die deutschen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs daher nicht ohne die Kriegserfahrung des Ersten Weltkriegs verstehen können.
So jedenfalls die Befürchtung.
Die russische Kriegsführung hingegen scheint so angelegt, dass ihr eine stetige Zunahme der Brutalität eigen ist. Und dass die auch so gewollt ist.
Man machte damals den gleichen Fehler wie die Russen heute, beließ die Männer perspektivisch bis zu ihrem gewaltsamen Tod in den Schützengräben und züchtete über Jahre eine ganze Generation der Abgestumpften heran, die charakterlich entsprechend geprägt wurden und diesen Defekt über die Erziehung auch an ihre Nachkommen weitergaben. (Persönlichkeitsverändernde traumatische Enzephalopathie mag angesichts des immensen Einsatzes von Artillerie ebenfalls eine Rolle gespielt haben.) Kein Wunder daher, dass der Sozialdarwinismus gerade in Deutschland so viel Zuspruch fand: das Überleben der Stärksten.
Eine ähnliche soziale Zeitbombe dürfte nun (wieder) in Russland ticken. Allerdings kann man die russischen Kriegsverbrechen, auch die unmenschliche Behandlung der eigenen Soldaten, nur bedingt durch Abstumpfung erklären. Einige Massaker (wie in Butscha und Isjum) geschahen ja gleich zu Beginn des Krieges; auch die Dedowschtschina ist kein den Kriegshärten geschuldetes Phänomen, sondern existierte schon immer (wobei unter der ersten Präsidentschaft Medwedews, welch Ironie, versucht wurde, die schlimmsten Auswüchse abzustellen).
Der Unterschied (hinsichtlich Deines Vergleichs) dürfte darin bestehen, dass in Russland leider eine Kultur der Gewaltverherrlichung existiert, die es in dieser Form nicht einmal in Hitlers Deutschland oder Mussolinis Italien gab. Denn zwar verlangten auch die Faschisten nach "Kämpfernaturen" und militarisierten die Gesellschaft dahingehend, dass der bedingungslose Kampf für Lebensraum und nationale Größe zur "Mannespflicht" wurde, nur sollte diese Aggression eben nach außen getragen werden; im Inland sollte sich der Landser bzw. Legionario gefälligst in die Gesellschaft einfügen und nicht stören.
Dies erhellt am Beispiel Deutschlands etwa aus der Abwicklung der SA, deren Image als tumbe Grobiane den Nazis extrem peinlich war. Nicht einmal die Nazis sahen es gern, wenn ein Mann öffentlich seine Frau vermöbelte, ein Offizier seine Untergebenen schlug oder ein Mob einen auf frischer Tat ertappten Dieb lynchte. In Russland ist diese Art der Gewalt des Stärkeren gegen den Schwächeren indes weit verbreitet und gilt als Schule für echte Männer (auch bekannt als Sibirskoje Obrasowanije, "sibirische Erziehung").
Wo Himmler davon sprach, dass die Deutschen den (euphemistisch so bezeichneten) Einsatz der SS nicht würden verstehen und würdigen können, und wo in der Tat die Durchschnittsdeutschen, die von den Verbrechen Kenntnis hatten, einfach wegschauten, beobachten wir in Russland im Gegenteil Vertreter aller Gesellschaftsschichten, wie sie sich öffentlich in Forderungen nach Härte und sogar Grausamkeit überbieten.
Die russische Soldatenfrau, die ihrem Mann mitteilt, er möge ruhig Ukrainerinnen vergewaltigen (solange er nur Kondome benutze);
der ranghohe Politiker (Medwedew), der seine Zukunftsvision für die Ukraine in einem Bild ausdrückt, das gehängte Opfer des stalinistischen Terrors zeigt;
die Direktorin des Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen, Elena Ponomarewa, die sich dafür ausspricht, alle moralischen Bedenken aufzugeben und durch Grausamkeit gegen Kinder, Frauen und Alte die Ukraine in die Knie zu zwingen;
der Duma-Abgeordnete Alexei Schurawljow, der zur besten Sendezeit mit Moderatorin Olga Skabejewa die Frage diskutiert, wie viele Ukrainer man denn nun umbringen müsse und wie, um die Ukraine zu befrieden (Antwort: 2 Mio., am besten durch Erschießen)…
Aus der Nazi-Zeit sind mir keine Fälle solcher Unverblümtheit bekannt. Andeutung, die verstehen konnte, wer sie verstehen wollte, das ja; aber keine Selbstbezichtigungen dieser Art.
Ich war 2008 zum ersten Mal in Russland (für die FNF). Vorher war mein Russlandbild geprägt gewesen von Dashcam-Videos und einigen wenigen Kontakten. Ich hatte geglaubt, die Russen seien ein extrem kollektivistisches Volk. Durch neue Kontakte, die Ereignisse der letzten zehn Jahre und Einflüsse wie eben z.B. des zitierten Boris Schurmatsky hat sich dieses Bild gewandelt.
Ich denke jetzt, dass die Russen tatsächlich den Individualismus auf die Spitze getrieben haben. Die jahrhundertelange Erfahrung von Gewalt sowohl durch eigene Regierungen als auch durch auswärtige Bedrohungen hat in der russischen Kultur eine Art Hang zur radikalen Autarkie ausgebildet, in der sich jeder selbst der Nächste ist und gewohnt ist, sich zu nehmen, was ihm zusteht. Was ich oben über die Zeit von 1914-1918 und ihre Wirkung auf deutsche Männer gesagt habe, hat sich wahrscheinlich (aber in abgeschwächter Form) in Russland über viele Generationen hinweg abgespielt.
Schurmatsky erklärte übrigens sogar die Plumpheit der Staatspropaganda mit diesem Mechanismus. Leicht durchschaubare Lügen seien ein Mittel der Herrschaftsausübung: Du weißt, dass ich lüge, und Du weißt, dass ich es weiß, aber Du kannst nichts dagegen tun, damit stelle ich die Machtverhältnisse klar.
Wahrscheinlich glauben viele Deutsche, die den Kurs der Bundesregierung mit Skepsis sehen – soll heißen, diejenigen, die ihn nicht ohnehin aus ideologischer Nähe zu Putin oder aus ordinärem Antiamerikanismus ablehnen –, dass wir aufgrund unserer Geschichte den Finger nicht in diese Wunde legen dürften. Die heute verbreitete Auffassung, Kulturkritik mit Rassismus gleichzusetzen, tut ihr Übriges. Persönlich bin ich aber anderer Meinung. Wem es mit seiner Forderung nach Frieden ernst ist, dem muss klar sein, dass dieser Krieg eine starke ideologische und sogar soziale Komponente hat, und dass folglich jeder voreilige Friedensschluss die Gefahr eines neuerlichen Krieges birgt.
(18.09.2024, 00:25)Schwabo Elite schrieb: Jedoch: Die Russen sind ja keine anderen Menschen.Ich denke, dass dieser Moment erst nach der allgemeinen Mobilmachung kommen kann – was mit ein Grund dafür sein dürfte, warum der Kreml diese krampfhaft vermeiden will.
Ich frage mich daher, ob es nicht irgendwann zu einem Bruch kommen muß, wo das Militär die Gewehre wegschmeisst.
So wie 1918.
Girkin hat den Finger trefflich in die Wunde gelegt: Rhetorisch führt das Regime einen Endzeitkampf, der entweder mit der Vernichtung der Ukraine und der Demütigung des sogenannten Westens, oder mit der Vernichtung Russlands und der ganzen Welt im nuklearen Feuer enden werde. Trotzdem geht man nicht "all in"?
Stattdessen werden v.a. die sozial Schwachen, die Nicht-Slawen und Nicht-Christen mit Geld an die Front gelockt und verheizt, Männer, die aus von Armut und Gewalt geprägten Milieus kommen und wenig zu verlieren haben. Und ungeachtet der misogynen Propaganda gegen den Einsatz von Frauen durch die ukrainische Armee schickt man nun gar lieber Straftäterinnen an die Front, als mobilzumachen.
Warum? Ich denke, weil man genau weiß: Die Kontraktniki und Z-Sturm-Angehörigen werden niemals die Gewehre wegschmeißen, denn wie der Krieg endet, könnte ihnen kaum egaler sein. Sie kämpfen vor allem für Geld und Sachleistungen, nicht für eine Sache.
Nur selten trifft man hingegen die Söhne der west- und nordrussischen urbanen Mittelschicht an der Front an. Diese am meisten verwestlichte (aus putinistischer Sicht: "verweichlichte") Schicht wäre wohl diejenige, die am ehesten revoltieren würde, weil sie sich am weitesten innerlich von den Werten entfernt hat, die derzeit die Kriegsanstrengungen tragen, und außerdem aufgrund ihrer Medienkompetenz am wenigsten empfänglich für Propaganda ist. Diese Männer würden am lautesten die Frage stellen, was das alles soll.
Schon die Revolten 1917 bzw. 1918 waren ja nicht von den Ärmsten getragen worden, den gepressten Kaukasiern, den Sibiriern, sondern von den Städtern, und ihre Anführer gehörten (ungeachtet der bolschewistischen Propaganda) sogar eher der oberen Mittelschicht bzw. wie Lenin der Oberschicht an. Diese Gruppe stellt meines Erachtens die einzige Bedrohung für Putin bzw. für die Fortführung des Krieges bis zum bitteren Ende dar, und deswegen versucht er auf Teufel komm raus, den Krieg von ihr fernzuhalten.