Abschreckung im Zeitalter irrationaler Akteure - am Beispiel des mittleren Ostens
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(05.10.2024, 07:24)Quintus Fabius schrieb: Willkommen im Forum.

Danke Smile

(05.10.2024, 07:24)Quintus Fabius schrieb: Vorab möchte ich deine Fragestellung an sich in Frage stellen und zwar in Bezug auf deine Definition von irrationalen und rationalen Gegnern:

Warum sollte eine Seite in jedem Fall irrational sein, weil ihr nicht-materielle Ziele wichtiger sind ? Und es wäre sogar umgekehrt denkbar, dass eine Seite zwar materielle Ziele höher gewichtet, aber trotzdem irrational agiert. Ich würde daher die Frage, ob ein Gegner als rational oder irrational einzustufen ist nicht an der Frage der Zielsetzung des Gegners festmachen. Sondern an der Frage, wie er sein Ziel erreichen will und wie er sich in diesem Kontext verhält. Und damit dreht sich deine Fragestellung praktisch gesehen in eine Definition um:

Ein Gegner ist gerade eben deshalb irrational, weil du ihn nicht abschrecken kannst. Gerade eben dadurch wird er zu einem irrationalen Akteur. Und damit wird deine Frage wie man einen irrationalen Akteur abschrecken könnte zugleich beantwortet: gar nicht. Gerade eben deshalb, weil er ein irrationaler Akteur ist und die Unmöglichkeit ihn abzuschrecken ihn überhaupt erst als solchen definiert.

Deshalb halte ich die Antworten der sogenannten KI hier auch für falsch, weil diese ideologische Ziele gerade eben als entscheidendes Definitionsmerkmal verwendet und damit aber einfach nur einer westlich anglo-amerikanischen Weltsicht folgt, und es zugleich an Logik vermissen lässt (schlussendlich hat diese sogenannte KI ja auch keinerlei Logik, sondern simuliert nur durch die Auswertung von vorgegebenen Datenbanken).

Interessanter Aspekt. Irrational erscheint eine Handlung, wenn sie nicht mit dem gesunden Menschenverstand nachvollziehbar ist und daher in der Regel weder erwartet wird (es sei denn, das Aktionsmuster wäre bereits bekannt) noch rational nachvollziehbar ist.

Beispiel : Während es grundsätzlich verständlich erscheint, dass z.B. eine religiöse Gruppierung ihre Glaubensinhalte verbreiten möchte und evtl. auch Personen zu ihrem Glauben bekehren oder Andersdenkende zu einer gewissen Konformität zwingen will (wenn man mal versuchsweise die Sichtweise dieser Gruppierung übernimmt) so stellt sich doch die Frage nach den Kosten. Um ein gewisses Ziel zu erreichen sind oftmals auch Kosten zu tragen, d.h. es ist ein Aufwand erforderlich.
Wenn nun ein grobes Missverhältnis zwischen diesem Aufwand und dem Wert des Ziels besteht (soweit der Wert des Ziels objektivierbar ist), so erscheint den Aussenstehenden, die versuchen unvoreingenommen die Sache zu analysieren (soweit dies möglich ist), das Vorgehen als nicht rational.
Oder anders gesagt : wenn Gruppe H sich das überwertige Ziel gesetzt hat, Gruppe I nicht nur vernichtend zu schlagen, sondern auszulöschen und von der Landkarte zu tilgen, jedoch nicht über die Mittel verfügt, dies tatsächlich zu tun (fehlende Eskalationsdominanz, fehlendes Eskalationspotential), jedoch trotzdem an dem Ziel festhält, und diesem Ziel alles unterordnet, d.h. auch das eigene Überleben, dann erscheint dieses Vorgehen dann nicht rational begründbar, solange Gruppe I nicht dasselbe versucht. Selbst wenn Gruppe I dasselbe versuchen würde, jedoch im Gegensatz zur Gruppe H über Eskalationspotential verfügt (d.h. sie haben letzlich mehr und effektivere Möglichkeiten, Angriffe ohne massive Kosten abzuwehren bzw. Angriffe ohne massive Kosten selbst durchzuführen), wäre das Handeln von Gruppe I noch nicht zwangsläufig irrational (wenn auch ethisch fragwürdig). D.h. auf der rein materiellen Ebene entstünden für Gruppe I keine überschiessenden materiellen Kosten.

Was die Abschreckung irrationaler Gegner betrifft : ich finde, da müssten die unterschiedlichen Kostenarten unterschieden werden.

Also :
Materielle Kosten in Form von Militärausgaben, Umsatzverluste der Wirtschaft, Landverluste, Verluste der wirtschaftlichen Nutzung von Seehäfen oder der eigenen kommerziellen Flotte

Ideologische Kosten in Form des moralischen oder politischen Abwendens eigener Bevölkerungsanteile von den vormals gemeinsamen Zielen (z.B. wird die kriegsführende Partei abgewählt, oder wenn dies nicht geht, stimmen die Leute mit den Füssen ab)

Personelle Kosten in Form von hohen Verlusten an Soldaten oder Zivilisten
usw.

Ob man nun die personellen Kosten als Unterform materieller Kosten sieht oder nicht, spielt für diese Analyse erstmal keine Rolle. Z.B. scheuen die USA keine materiellen Kosten im eigentlichen Sinn, jedoch personelle Kosten sehr wohl. Daher macht die obige Aufteilung meines Erachtens Sinn.

Also wenn eine Partei auf der materiellen und personellen Ebene keine Kostengrenzen hat und in diesem Zusammenhang nicht abschreckbar ist (also auf dieser Ebene irrational agiert), bedeutet das nicht, dass nicht auf der ideologischen Ebene Kosten entstehen können, welche eventuell durchaus Kostenobergrenzen haben, vielleicht nicht von vorn herein bewusst festgelegt, wenn jedoch massive Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung und Armee auftritt, kann möglicherweise aus diesen Gründen die Angriffstaktik nicht fortgeführt werden, droht dieses Szenario und ist es als solches erkennbar, mag es einen Abschreckungseffekt ausüben.

(05.10.2024, 07:24)Quintus Fabius schrieb: Verbleibt noch der Fall, dass der Gegner zwar ideologische Ziele höher gewichtet, aber trotzdem ein rationaler Akteur ist:

In diesem Fall kann man Abschreckung dadurch herstellen, indem man entsprechend die Erreichung der nicht-materiellen Ziele bedroht / in Frage stellt. Da der Gegner hier rational agiert, wird er dadurch abgeschreckt, weil sonst seine nicht-materiellen Ziele bedroht sind.
Naja, wie oben ausgeführt, muss man die Abschreckbarkeit auf die jeweiligen Ebenen beziehen und getrennt analysieren. Auf der ideologischen Ebene wäre das Handeln dann rational, jedoch nicht auf der materiellen Ebene. D.h. je nach Ebene handelt der Akteur irrational bzw. rational.

(05.10.2024, 17:25)Helios schrieb: Ohne jetzt zu sehr auf die philosophische Ebene abzugleiten, aber die Bewertung von Rationalität braucht immer einen Bezugsrahmen, der sich aus einem subjektiven Wissensstand ergibt. Nur weil uns etwas irrational erscheint, muss es weder aus einer anderen subjektiven oder gar aus objektiver Perspektive irrational sein - es können auch einfach nur Informationen fehlen, oder das Urteilsvermögen durch äußere oder innere Einfluss getrübt sein. Tatsächlich halte ich sehr viel mehr für rationaler als dies gemeinhin behauptet wird, aus diesem Grund ist meiner Ansicht nach die Unterstellung von Irrationalität häufig auch weniger eine Aussage über fremde Handlungen, sondern vielmehr über den eigenen Informationsstand.

Ja, korrekt, die Frage nach dem Bezugsrahmen der "Normalität". Ist auch ein Thema in der Psychiatrie bzw. Psychologie: was ist noch normal?

Hier gibt es natürlich auch kulturelle Effekte. Letztlich empfindet eine zwar heterogene Gruppe, die jedoch gewisse gemeinsame Sozialisierungsphänomene aufweist, ein bestimmtes Handeln eines Akteurs als "normal", "nachvollziehbar" oder "rational" und ein anderes Handeln jedoch als "abartig", "unnormal", "nicht nachvollziehbar" oder "irrational".

In der Psychiatrie finden sich ausserdem noch das Konzept der überwertigen Idee, d.h. ein Gedanke/Konzept/Idee/Ziel, der über das normale Mass hinaus wichtig wird (auf der Individualebene), weshalb er als "überwertig" bezeichnet wird. Dieser überwertiger Gedanke wird, wenn es zu sozialen Störungen oder zu signifikanten Einschränkungen des Alltags führt, im allgemeinen als "krankhaft" eingestuft. Wobei es nicht unbedingt der Gedanke selbst sein muss, der als krankhaft bewertet wird, als vielmehr die alles vereinnahmende Überwertigkeit oder auch "Priorisierung", welcher dieser Idee innewohnt. Dass heisst die üblichen Kostenschwelle wird verlassen und die Idee wird trotz hoher und sehr hohen individuellen oder vergemeinschaftlichten Kosten weiter verfolgt. Dies macht das sich auf diese überwertige Idee gründende Handeln irrational.

Ich denke nicht, dass es nur dem Aussenstehenden fehlender Kontext ist, welche als problematische erscheinende Handlungen als nicht nachvollziehbar oder irrational erscheinen lassen. Im heutigen Informationszeitalter kann der Kontext in der Regel durch Recherche oder Konsultieren diverser einschlägiger Experten hergestellt werden. Wobei sich hier neue Probleme auftun: Experten mit eigener Agenda, von Dritten bezahlt usw.

Dass fehlende Informationen den Anschein von Irrationalität erwecken können, mag jedoch in Sonderfällen zutreffen. Z.B. wenn Autokraten in einer Informationsblase leben, oder wenn es eine aus politischen Gründen gebildete Blase mit einem eindeutigen Bias gibt, wie z.B. die amerikanischen "Fuchs Nachrichten" ;-)

(05.10.2024, 17:25)Helios schrieb: PS: Willkommen im Forum. Smile

Danke. Smile

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RE: Abschreckung im Zeitalter irrationaler Akteure - am Beispiel des mittleren Ostens - von Zardo - 08.10.2024, 19:58

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