08.10.2024, 21:56
Ideelle Ziele – ideologische oder religiöse etwa – mögen denen irrational erscheinen, die sie nicht teilen, trotzdem folgen sie inhärenten Regeln, wodurch sie berechenbar werden. Innerhalb des Regelwerks sind sie rational. Nur sehr selten verstoßen von ideellen Zielen geleitete Entscheidungsträger bewusst und offen gegen die von ihrer Ideologie oder Religion vorgegebenen Regeln, da sie sonst Gefahr laufen, sich ihrer Legitimation zu berauben.
Ein interessantes Beispiel wäre Adolf Hitlers Entscheidung, den Holocaust zu intensivieren, als sich das Kriegsglück gegen Deutschland wandte. Der industrialisierte Massenmord band zehntausende Männer abseits der Front und beraubte die Nazis der Arbeitskraft von Millionen Menschen. Vernünftiger wäre es gewesen (so widerlich das Wort in dem Zusammenhang auch sein mag), die "Endlösung" zu vertagen. Hitlers persönlicher Hass minderte also die Erfolgsaussichten der von ihm proklamierten Ideologie.
Doch sind solche Beispiele zum Glück selten. Hitler war besonders gefährlich, da er nicht Prophet irgendeiner existierenden Ideologie war, sondern die Ideologie mit ihren Regeln selbst entwickelt hatte. Also konnte er sie auch ändern. Außerdem war er ein Asket und wenig an anderen Dingen interessiert. Ein Hermann Göring etwa hätte zuerst an seinen Profit gedacht, und Krieg und Massenmord wohl weniger bereitwillig eskaliert.
In diesem Sinne ist zu fragen, ob die Entscheidungsträger wirklich bereit sind, alle ihre Entscheidungen ideellen Zielen unterzuordnen, oder nicht auch persönliche Handlungsmotive haben, die der Ideologie entgegenstehen. Da könnte man dann ansetzen.
Wieder das Beispiel Iran: Die Islamische Revolutionsgarde hat, der SS nicht unähnlich, ein weitverzweigtes Wirtschaftsimperium aufgebaut, das heute die größte Wirtschaftsmacht im Land darstellt. Jene, die vom System profitieren, mögen noch so oft beteuern, dass sie bereit sind, für den wahren Glauben zu sterben; ihre bombastischen Villen sprechen eine andere Sprache.
Aus einem ähnlichen Grund halte ich übrigens auch Wladimir Putins Drohungen mit dem roten Knopf für irrelevant. Putin ist steinreich. Ein Mann, der sich ein 68 Hektar großes Anwesen an der Schwarzmeerküste bauen lässt, hegt keinen übermäßigen Wunsch zu sterben.
Mit anderen Worten, ich würde für ein neues Verständnis von "Abschreckung" plädieren. Entgegen aller Unkenrufe hat sich das Konzept der nuklearen Abschreckung nämlich bewährt.
Was derzeit im Nahen Osten geschieht, wäre vor 1945 undenkbar gewesen. Hätte es die Akteure in der jetzigen Machtkonstellation damals schon gegeben, nur eben ohne Atomwaffen, der Iran hätte Israel längst vernichtet. Und auf dem Weg dorthin wohl noch die schiitischen Gebiete Iraks und Syriens annektiert.
Was derzeit in Osteuropa geschieht, wäre nach dem gleichen Denkmuster ebenso unmöglich gewesen. Die Ramstein-Kontaktgruppe wäre längst auf ukrainischer Seite in den Krieg eingetreten und hätte Putins Armee in den Kuban getrieben.
Umgekehrt funktioniert das Ganze natürlich auch.
Russland hätte uns längst den Krieg erklärt, um die Unterstützung der Ukraine gewaltsam zu unterbinden. Und der Grund, warum Netanjahu so zappelig wird, ist, dass Iran sich offenbar einem eigenen Atomwaffenarsenal nähert. Sobald die Ajatollahs die Bombe haben, kann Israel keinen konventionellen Erstschlag mehr führen, ohne einen nuklearen Zweitschlag zu riskieren.
Solange also Atomwaffen im Spiel sind, ist auch der irrational erscheinende Akteur durchaus zur Deeskalation fähig. Man muss ihn nicht davon abhalten, sich nicht selbst zerstören zu wollen; er will es in aller Regel nicht. Die einzige Eskalationsgefahr besteht darin, dass der irrational erscheinende Akteur sich zumindest den Anschein geben muss, zum Äußersten bereit zu sein, was zu Missverständnissen führen kann.
Die Frage ist vielmehr, wie verhindere ich, dass mein Gegner mir einen begrenzten Schlag versetzt und sich hinter seine atomare Mauer verdrückt. Die Ukrainer haben da ein Mittel gefunden, das funktionieren würde, wenn der sog. Westen es nur mit Nachdruck unterstützen würde: Sie greifen die russische Wirtschaft an. Das wirkt. Beispielsweise schrumpften die öffentlichen Einnahmen Russlands in der Oblast Tjumen, der wichtigsten Gasförderregion, im ersten Halbjahr um 34,4%, weil die ukrainischen Angriffe die Produktion stören und Gazprom kaum noch Umsatzsteuer zahlen kann. (Quelle)
Es hat ebenso seinen Grund, dass Israel aktuell offenbar einen Angriff auf die iranische Ölproduktion erwägt.
Moderne Kriege sind scheißteuer. Und die Macht autoritärer Regimes, die am ehesten "irrational" sind, beruht auf einem Gesellschaftsvertrag: Wohlstand gegen Gehorsam. Bricht der Wohlstand weg, verliert die Regierung an politischer und militärischer Potenz.
Die Autokraten wissen das natürlich. Deswegen suchen sie wirtschaftliche Verflechtungen mit den militärisch potentesten Staaten, deswegen kaufen sie ausländische Devisen ein.
Schon jetzt können die USA wahrscheinlich keinen Krieg gegen China führen, der über ein kurzes "Missverständnis" hinausreicht, weil der Absturz der chinesischen Wirtschaft ihre eigene Wirtschaft in den Abgrund reißen würde. Und anders als noch vor einem Jahrhundert sind westliche Wohlstandsgesellschaften nicht mehr bereit, solche Einbußen einfach hinzunehmen.
Insofern ist die beste Art der Abschreckung in meinen Augen, eine hohe wirtschaftliche Resilienz aufzubauen, damit man glaubhaft behaupten kann, einen Krieg notfalls nicht zu scheuen.
Sodann braucht es unterhalb der atomaren Schwelle eine Offensivkraft mit strategischer Reichweite (sowohl konventionell als auch im Cyberraum), damit jeder wagemutige Autokrat immer befürchten muss: Wenn ich denen auf den Schlips trete, kommen sie und keulen den Esel, der meine Dukaten kackt.
Vor allem braucht es aber an allen Stellen der Gesellschaft den Willen, eine glaubhafte Abschreckung aufrechtzuerhalten. Eine Regierung kann noch so kraftmeierisch auftreten; wenn Umfragen sagen, dass nur jeder zehnte Bürger für sein Land kämpfen würde, weiß der potentielle Gegner natürlich, was er von Drohungen zu halten hat.
Wirtschaft, Gesellschaft, Militär. Die drei Säulen der Abschreckung.
Meiner Ansicht nach sind im sog. Westen bzw. unter seinen Alliierten derzeit nur die USA, Frankreich, Israel und Japan zu strategischer Abschreckung fähig.
Ein interessantes Beispiel wäre Adolf Hitlers Entscheidung, den Holocaust zu intensivieren, als sich das Kriegsglück gegen Deutschland wandte. Der industrialisierte Massenmord band zehntausende Männer abseits der Front und beraubte die Nazis der Arbeitskraft von Millionen Menschen. Vernünftiger wäre es gewesen (so widerlich das Wort in dem Zusammenhang auch sein mag), die "Endlösung" zu vertagen. Hitlers persönlicher Hass minderte also die Erfolgsaussichten der von ihm proklamierten Ideologie.
Doch sind solche Beispiele zum Glück selten. Hitler war besonders gefährlich, da er nicht Prophet irgendeiner existierenden Ideologie war, sondern die Ideologie mit ihren Regeln selbst entwickelt hatte. Also konnte er sie auch ändern. Außerdem war er ein Asket und wenig an anderen Dingen interessiert. Ein Hermann Göring etwa hätte zuerst an seinen Profit gedacht, und Krieg und Massenmord wohl weniger bereitwillig eskaliert.
In diesem Sinne ist zu fragen, ob die Entscheidungsträger wirklich bereit sind, alle ihre Entscheidungen ideellen Zielen unterzuordnen, oder nicht auch persönliche Handlungsmotive haben, die der Ideologie entgegenstehen. Da könnte man dann ansetzen.
Wieder das Beispiel Iran: Die Islamische Revolutionsgarde hat, der SS nicht unähnlich, ein weitverzweigtes Wirtschaftsimperium aufgebaut, das heute die größte Wirtschaftsmacht im Land darstellt. Jene, die vom System profitieren, mögen noch so oft beteuern, dass sie bereit sind, für den wahren Glauben zu sterben; ihre bombastischen Villen sprechen eine andere Sprache.
Aus einem ähnlichen Grund halte ich übrigens auch Wladimir Putins Drohungen mit dem roten Knopf für irrelevant. Putin ist steinreich. Ein Mann, der sich ein 68 Hektar großes Anwesen an der Schwarzmeerküste bauen lässt, hegt keinen übermäßigen Wunsch zu sterben.
Mit anderen Worten, ich würde für ein neues Verständnis von "Abschreckung" plädieren. Entgegen aller Unkenrufe hat sich das Konzept der nuklearen Abschreckung nämlich bewährt.
Was derzeit im Nahen Osten geschieht, wäre vor 1945 undenkbar gewesen. Hätte es die Akteure in der jetzigen Machtkonstellation damals schon gegeben, nur eben ohne Atomwaffen, der Iran hätte Israel längst vernichtet. Und auf dem Weg dorthin wohl noch die schiitischen Gebiete Iraks und Syriens annektiert.
Was derzeit in Osteuropa geschieht, wäre nach dem gleichen Denkmuster ebenso unmöglich gewesen. Die Ramstein-Kontaktgruppe wäre längst auf ukrainischer Seite in den Krieg eingetreten und hätte Putins Armee in den Kuban getrieben.
Umgekehrt funktioniert das Ganze natürlich auch.
Russland hätte uns längst den Krieg erklärt, um die Unterstützung der Ukraine gewaltsam zu unterbinden. Und der Grund, warum Netanjahu so zappelig wird, ist, dass Iran sich offenbar einem eigenen Atomwaffenarsenal nähert. Sobald die Ajatollahs die Bombe haben, kann Israel keinen konventionellen Erstschlag mehr führen, ohne einen nuklearen Zweitschlag zu riskieren.
Solange also Atomwaffen im Spiel sind, ist auch der irrational erscheinende Akteur durchaus zur Deeskalation fähig. Man muss ihn nicht davon abhalten, sich nicht selbst zerstören zu wollen; er will es in aller Regel nicht. Die einzige Eskalationsgefahr besteht darin, dass der irrational erscheinende Akteur sich zumindest den Anschein geben muss, zum Äußersten bereit zu sein, was zu Missverständnissen führen kann.
Die Frage ist vielmehr, wie verhindere ich, dass mein Gegner mir einen begrenzten Schlag versetzt und sich hinter seine atomare Mauer verdrückt. Die Ukrainer haben da ein Mittel gefunden, das funktionieren würde, wenn der sog. Westen es nur mit Nachdruck unterstützen würde: Sie greifen die russische Wirtschaft an. Das wirkt. Beispielsweise schrumpften die öffentlichen Einnahmen Russlands in der Oblast Tjumen, der wichtigsten Gasförderregion, im ersten Halbjahr um 34,4%, weil die ukrainischen Angriffe die Produktion stören und Gazprom kaum noch Umsatzsteuer zahlen kann. (Quelle)
Es hat ebenso seinen Grund, dass Israel aktuell offenbar einen Angriff auf die iranische Ölproduktion erwägt.
Moderne Kriege sind scheißteuer. Und die Macht autoritärer Regimes, die am ehesten "irrational" sind, beruht auf einem Gesellschaftsvertrag: Wohlstand gegen Gehorsam. Bricht der Wohlstand weg, verliert die Regierung an politischer und militärischer Potenz.
Die Autokraten wissen das natürlich. Deswegen suchen sie wirtschaftliche Verflechtungen mit den militärisch potentesten Staaten, deswegen kaufen sie ausländische Devisen ein.
Schon jetzt können die USA wahrscheinlich keinen Krieg gegen China führen, der über ein kurzes "Missverständnis" hinausreicht, weil der Absturz der chinesischen Wirtschaft ihre eigene Wirtschaft in den Abgrund reißen würde. Und anders als noch vor einem Jahrhundert sind westliche Wohlstandsgesellschaften nicht mehr bereit, solche Einbußen einfach hinzunehmen.
Insofern ist die beste Art der Abschreckung in meinen Augen, eine hohe wirtschaftliche Resilienz aufzubauen, damit man glaubhaft behaupten kann, einen Krieg notfalls nicht zu scheuen.
Sodann braucht es unterhalb der atomaren Schwelle eine Offensivkraft mit strategischer Reichweite (sowohl konventionell als auch im Cyberraum), damit jeder wagemutige Autokrat immer befürchten muss: Wenn ich denen auf den Schlips trete, kommen sie und keulen den Esel, der meine Dukaten kackt.
Vor allem braucht es aber an allen Stellen der Gesellschaft den Willen, eine glaubhafte Abschreckung aufrechtzuerhalten. Eine Regierung kann noch so kraftmeierisch auftreten; wenn Umfragen sagen, dass nur jeder zehnte Bürger für sein Land kämpfen würde, weiß der potentielle Gegner natürlich, was er von Drohungen zu halten hat.
Wirtschaft, Gesellschaft, Militär. Die drei Säulen der Abschreckung.
Meiner Ansicht nach sind im sog. Westen bzw. unter seinen Alliierten derzeit nur die USA, Frankreich, Israel und Japan zu strategischer Abschreckung fähig.