Geschichte und Ethnogenese der Juden
#45
Fortsetzung...

Stehengeblieben war ich ja im Bereich um 1.250 bis 1.200 v. Chr.

Folgt man der Bibel und nimmt man den Auszug aus Ägypten für bare Münze, so waren die Israeliten 40 Jahre alleine auf dem Sinai unterwegs. (Übrigens ist mir da ein kleiner Fehler passiert. Die Israeliten wurden nicht deswegen von Gott zu einer Reisezeit von 40 Jahren verurteilt, weil sie das Goldene Kalb umtanzt hatten, sondern weil einige von ihnen, als Mose mit den Gesetzestexten wieder zurückgekehrt war vom Berg Sinai, wegen der Entbehrungen wieder nach Ägypten umkehren wollten - dies hat den Allmächtigen dann so erzürnt, dass er vorgab, dass die ausziehende Generation in ihrer Lebenszeit das gelobte Land nicht erreichen werde.)

Aber was kann man finden? Wenn der Auszug so stattgefunden hat, dann flohen die Israeliten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht entlang der Küste (also am Mittelmeer entlang), denn die Route zwischen dem Nildelta und Gaza war fest in ägyptischer Hand. Es gibt klare Informationen in ägyptischen Quellen, wonach die Route am Mittelmeer entlang gut ausgebaut war und in Tagesmarschabständen ägyptische Garnisonen und Versorgungspunkte angelegt waren. So gelang es bspw. Pharao Sethos I. (1.323 bis 1279 v. Chr.) mit einem Heer die Route von rund 300 Kilometern zwischen dem Nildelta und Gaza in rund zehn Tagen zurückzulegen (!) - eine für die Bronzezeit durchaus bemerkenswerte Leistung -, als er gegen Retjenu zog. Ähnliches soll Ramses II. 1.276 v. Chr. gelungen sein, als er sich mit den Mittani schlug. Die Küstenroute war also gut kontrolliert und als Fluchtweg daher nicht geeignet.

Insofern wäre es logisch, wenn die Hebräer eine Route weiter südlich über den Sinai gewählt hätten. Hier finden sich zwar auf dem Sinai selbst keine Spuren, aber im Osten des Sinai stechen zwei Orte heraus - Ezion-Geber nahe dem heutigen Eilat und Kadesch-Barnea im westlichen Negev. In letztgenanntem Ort sollen die Israeliten 38 Jahre verbracht haben (von den 40 Jahren ihrer Wanderschaft). Heute bringt man Kadesch-Barnea zumeist mit der Oase el-Quderat in Verbindung, allerdings hat man dort bei Grabungen keinerlei nennenswerte Überreste gefunden, aus der Bronzezeit überhaupt nichts. In Ezion-Geber indessen fand man bei Ausgrabungen umfangreiche Spuren einer Besiedlung - allerdings aus dem Bereich der Eisenzeit I B bis II A (d. h. ca. 1.150 bis 925 v. Chr.). Da der Auszug der Israeliten allerdings, gemaß dem Eichmaß, etwas früher stattfinden und in die Bronzezeit hätte fallen müssen, können die Funde in Ezion-Geber nicht als gesicherter Beweis gelten, allenfalls als mögliche Spur.

Im 2. Buch Mose (Exodus) wird von 600.000 Menschen gesprochen, die aus Ägypten auszogen. Das dürfte eine maßlose Übertreibung sein, wie wir sie in antiken Texten öfters finden können. Weder war das Volk der Israeliten derart groß, noch wäre es möglich gewesen, eine solche Masse an Menschen auf dem unwirtlichen Sinai mit Nahrung und Wasser zu versorgen. Und zuletzt hätte ein solcher Volkszug zwangsläufig Spuren hinterlassen müssen.

Nach 40 Jahren Aufenthalt auf dem Sinai zogen die Israeliten weiter - nun, nach dem Tode von Mose am Fuße des Berg Nebo, gemäß dem Tanach unter der Führung Josuas (siehe Buch Josua), einem durchaus wohl geschickten An- und Heerführer - und nahmen in einem "Blitzfeldzug" (den Begriff nutze ich nun, er steht so nirgends) das Land Kanaan ein. Und dabei stießen sie nicht nur überraschend schnell vor, sondern ihre mächtigen Feinde erzitterten auch vor ihnen. Es folgte Sieg auf Sieg - nach sieben Tagen brachen die Mauern Jerichos unter dem Schall der Trompeten, während der Schlacht bei Gibeon, als die Israeliten die vereinten Heere der Kanaaniter schlugen, hielt Gott die Sonne an und gewaltige Festungen wie Hazor und Lachisch zerfielen zu Ruinen und brannten nieder.

Naja, oder so ähnlich. Denn es sind reine Legenden. Um hier ein wenig uns durchzuwühlen, müssen wir wieder mal die Ägypter bemühen. Denn Kanaan stand zu weiten Teilen unter Kontrolle des Pharaos. Und die dortigen Städte - Jericho, Gibeon, Aii, Lachisch, Hazor, Debir, Megiddo, Ekron, Hebron, Bethel, Sichem und wie sie alle hießen - waren zwar begrenzt autonom, aber dem Pharao tributpflichtig. Und irgendwelche gewaltigen Heere und riesige Festungsbauten hätten sich diese Lokalkönige weder leisten können (denn die Abgaben an den Pharao waren hoch), noch hätten es die Ägypter zugelassen. Und geeint waren diese Könige auch nicht, so gibt es ägyptische Berichte, wonach man wenig glücklich über die beständigen Fehden dieser Lokalherrscher untereinander war.

Mächtige Festungen? Grabungen haben z. B. weder bei Jericho noch bei Megiddo nennenswerte Befestigungen aus der Bronzezeit hervorgebracht. Im Regelfalle handelte es sich eher um eng begrenzte und schwach befestigte Fürstensitze, in denen sich die Führungsschicht und wichtige Verwaltungsbeamte aufhielten, vielleicht einige dutzend Personen - heute würde man wohl von einem Compound reden. Die "Untertanen" jedoch siedelten im Umland in kleineren Weilern und Dörfchen. Man darf sich die Städte also nicht wie befestigte Städte des Mittelalters wie z. B. Carcassonne vorstellen, sondern es waren unbefestigte Ansiedlungshaufen mit einem zentralen, nur eher leicht befestigten Fürstensitz.

Und große Heere? Hier lohnt ein Blick in die sogenannten Amarna-Täfelchen - in diesen sind auch Berichte enthalten, über militärische Ereignisse in Kanaan vor dem Auftreten der Israeliten. Und diese Ereignisse müssen sehr überschaubar gewesen sein, denn da ist bspw. auch ein Bericht zu finden über einen "Privatkrieg" des Königs von Megiddo gegen den König von Sichem um 1.280 v. Chr. Der König von Megiddo bittet den Pharao um militärischen Beistand - und ersucht um 100 Soldaten (!), um Megiddo verteidigen zu können. Allzu groß waren die Heere also nicht. Zumal der Pharao anscheinend entgegnete, dass 50 Mann doch bitte ausreichend sein sollten (es ist aber unklar, wie viele dann letztlich geschickt wurden).

Man kann also sagen, dass die Israeliten keinen gewaltigen Heermassen und auch keinen riesigen Burgen gegenüberstanden. Aber genau dieser Umstand könnte es den Israeliten auch ermöglicht haben, in den nachfolgenden Jahren Kanaan einzunehmen - eben da ihnen nur geringer Widerstand entgegenstand. Und trotzdem dauerte die "Einnahme" Kanaans - nimmt man die verfügbaren archäologischen Quellen als Maßstab - geschätzt einhundert Jahre. Denn die wenigen Belege, die auf gewaltsame Ereignisse schließen lassen, so etwa Brandschichten in den Ruinen der Stadt Hazor, überspannen rund 100 Jahre. Und diese Spuren entwickelten sich von Ost nach West, d. h. wenn die Israeliten Kanaan einnahmen, dann kamen sie von Osten aus dem Bereich des Toten Meeres und siedelten allmählich in westlicher Richtung nach Kanaan hinein. Ob die vereinzelt aufgefundenen Brandschichten (siehe oben, in Hazor, aber auch bspw. in Sichem) nun mit einer "kampagnenartigen" Einnahme zusammenhängen oder aber Belege für Fehden der Herrscher Kanaans untereinander sind, muss offen bleiben. Zumal zwischen den einzelnen Brandereignissen in den Städten bis zu 100 Jahre liegen - sollte dies also ein Feldzug eines geeinten Volkes gewesen sein, hätte es ein "Vormarschtempo" an den Tag gelegt, das niedriger ist als jenes der Russen in der Ukraine.

Rein theoretisch könnte man also sagen: Ein Volksstamm von Halbnomaden zieht um 1.250 v. Chr. vom Sinai in den Bereich südlich des Toten Meeres, um den Truppen des Pharaos zu entgehen, die diese herumziehenden Nomaden nicht gerne sehen. Von dort, da sich herumspricht, dass die ägyptischen Vasallen in Kanaan nur schwach sind, bricht dieses Völkchen nach Norden auf und dringt von Osten kommend nach Kanaan vor. Dort lässt man sich nieder - eine weitgehend friedliche Landnahme - und siedelt sich über Jahrhunderte allmählich nach Westen voran, während sich die Könige Kanaans gegenseitig befehden. Den Ägyptern fällt diese Landnahme zwar auf, aber da die Ankömmlinge friedlich sind und zudem vieh- und landwirtschaftlich aktiv werden, lässt man sie gewähren. Zumal dem Pharao Bauern lieber sind als herumziehende Nomaden.

Um 1.200 v. Chr. hat der Pharao zudem andere, wesentlich ernstere Sorgen, denn der Sturm der Seevölker zeichnet sich ab...

Fortsetzung folgt.

Schneemann
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