31.10.2024, 02:56
Auf Kindle kann man sich Bob Woodwards neues Buch 'War' heute mit Preisnachlass besorgen, worin er die Entscheidungsprozesse der US-Regierung der letzten vier Jahre beleuchtet. Er beruft sich dabei auf hochrangige Quellen im Weißen Haus, teilweise auch auf Gesprächsprotokolle. Zur Ukraine berichtet Woodward Folgendes:
Woodward liefert hier ein starkes Indiz dafür, dass die NATO wirklich die "Boiling frog"-Strategie verfolgt. Das ist bitter für die Ukraine.
Nebenbei: Wenn Trump wirklich mit Putin gesprochen hat, und dies nicht auf Veranlassung der rechtmäßigen Regierung geschah, wovon man angesichts des ideologischen Grabens ausgehen muss, wäre dies ein maximal illoyaler und gefährlicher Akt. Außerdem wäre es ein Verbrechen: Der Logan Act verbietet es US-Bürgern, ohne Auftrag der Bundesregierung mit fremden Mächten zu verhandeln.
Natürlich hat sich das Kriegsglück zurzeit gegen die Ukraine gewandt, aber "struggling to survive"? Das sehe ich auf den Lagekarten persönlich nicht, und auch nicht in den bildlich bestätigten Verlustlisten. Man muss sich ja auch fragen, woraus bestehen diese 480 km². Das Argument, dass Du in der Kursk-Frage vorgebracht hattest, gilt umgekehrt natürlich auch hier: 100 km² Ackerland sind ein geringer einzuschätzender operativer Erfolg als 10 km² dicht besiedelte Infrastruktur.
Und die eklige Geschichte kommt erst noch. Pokrowsk ist etwa so groß wie Bachmut, und der Kampf um diese Stadt kostete 42.000 Menschen das Leben. Es stellt sich also nicht die Frage, was ist bisher passiert, sondern was passiert als Nächstes, wenn die Russen ihre mutmaßlichen Angriffsziele erreichen.
Denn bis auf Wuhledar haben sie im Oktober in der Hauptsache Ackerland, Baumreihen und kleine Dörfer erobert.
Ohne Kontext könnte man auch Parallelen herstellen zwischen z.B. diesem amerikanischen Propagandaposter aus dem Zweiten Weltkrieg und diesem Deutschen. Was natürlich Unsinn wäre. Beide Bilder verklären den Krieg als Spektakel, bedienen sich patriotischer Bilder, augenscheinlich ähneln sie einander. Doch steht das eine eben für den Kampf des Angegriffenen gegen den genozidalen Diktator, und das andere ruft zum Kampf für den genozidalen Diktator auf.
- Im Oktober 2022 – die Ukrainer stehen vor der Rückeroberung von Cherson – erhält der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan Geheimdienstberichte, wonach der russische Präsident Wladimir Putin sich gedemütigt fühlt und im Kreml der Einsatz von Nuklearwaffen erwogen wird. Die USA haben eindeutige Erkenntnisse, dass die russische Armee demoralisiert ist und vor der Desintegration steht.
- Die Defense Intelligence Agency kommt zur Einschätzung, dass Putin die 30.000 in Cherson eingekesselten Soldaten – aus Prestigegründen und um die Frischwasserversorgung der Krim sicherzustellen – nicht untergehen lassen kann.
- Im Kreml herrscht Alarmstimmung: Fällt Cherson, fällt auch die Krim. Fällt die Krim, ist nach russischer Lesart russisches Kernland bedroht und Nuklearwaffen könnten eingesetzt werden.
- Präsident Joe Biden fürchtet den nuklearen Schlagabtausch und ist unsicher, ob und wie er reagieren würde. Biden ist wütend und gibt seinem Vorvorgänger Barack Obama die Schuld an dem Konflikt: Hätte dieser 2014 seinen roten Linien Taten folgen lassen, wäre die Welt eine andere.
- Biden ist zu diesem Zeitpunkt nicht bereit, einen Nuklearschlag Russlands gegen die Ukraine nuklear zu vergelten. Auf sein Drängen arbeitet man einen Plan aus, nach dem die USA mit massiver konventioneller Vergeltung antworten würden: Vernichtung der russischen Schwarzmeerflotte, Vernichtung der Einheit, die die Nuklearwaffe zum Einsatz brachte.
- Nach Woodwards Darstellung sind Sullivan und Biden diejenigen im Weißen Haus, die am besorgtesten sind, nicht alle teilen ihre Meinung. Insbesondere Sullivan ist sehr beunruhigt und vielleicht psychologisch beeinträchtigt, weil er das Fiasko des Afghanistan-Rückzugs zu verantworten hat. Er hat die Losung ausgegeben, dass die USA sich unter Biden aus Krisen heraushalten wollen.
- Biden beauftragt Sullivan, den Kreml zu kontaktieren. Sullivan schickt CIA-Direktor William Burns vor, der wiederum einen Kontakt zu Putin selbst anbahnt. Biden telefoniert mit Putin und drängt auf Gespräche. Auf Putins Vermittlung trifft sich Burns mit seinem russischen Pendant, SWR-Direktor Sergei Naryschkin, was jedoch zu keinen relevanten Ergebnissen führt.
- Verteidigungsminister Lloyd Austin telefoniert mit seinem russischen Gegenstück Sergei Schoigu und sagt ihm ins Gesicht, dass die USA von den russischen Gedankenspielen wüssten. Er warnt Schoigu: Der Einsatz von Nuklearwaffen wäre eine Zäsur und würde von den USA als essentielle Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit aufgefasst. Laut Woodward sagt Austin wörtlich zu Schoigu: "Ihr meint, die Ukraine ist für euch wichtiger als für uns. Wenn ihr Nuklearwaffen einsetzt, wird sie für uns wichtiger sein als für euch."
- Austin warnt Schoigu, dass Russland zum Paria werden und alle seine Verbündeten verlieren werde. Auch China und Indien würden es nicht dulden, dass Russland eigenmächtig das nukleare Gleichgewicht verschiebt.
- Schoigu antwortet: "Ich mag es nicht, wenn man mir droht." Darauf erwidert Austin wörtlich: "Herr Minister, ich befehlige die mächtigste Armee des Planeten. Ich muss Ihnen nicht drohen."
- Etwa zur gleichen Zeit telefoniert US-Generalstabschef Mark Milley mit dem russischen Generalstabschef Waleri Gerassimow. Er habe Informationen erhalten, dass russische Politiker über den Einsatz von Nuklearwaffen diskutieren, und bittet Gerassimow nun darum, ihm "im Interesse Russlands" mitzuteilen, unter welchen Umständen Russland Nuklearwaffen einsetzen könnte.
- Gerassimow verweist auf die russische Nukleardoktrin, die den Amerikanern bekannt sei.
- Milley sagt zu Gerassimow: "Ich will es aus Ihrem Mund hören."
- Gerassimow sagt: "Wenn eine ausländische Macht russisches Territorium ernsthaft bedroht. Wenn die Arbeitsfähigkeit der Regierung und der Fortbestand des Staates ernsthaft gefährdet sind. Wenn die russische Armee auf dem Gefechtsfeld eine Niederlage erleidet, die ihre Rolle als Beschützerin des Staates beeinträchtigt."
- Milley antwortet sinngemäß: Dann könnten sie beide ruhig schlafen, denn dazu werde es nicht kommen.
- Biden steht aus seiner Sicht vor einem Dilemma: Wird Russland aus der Ukraine geworfen, droht der Dritte Weltkrieg. Kommt Russland ungestraft mit der Eroberung ukrainischen Gebiets davon, droht mittelbar ebenfalls der Dritte Weltkrieg infolge weiterer Aggressionen durch Russland, Nordkorea und China.
- Biden formuliert als Maßgabe der amerikanischen Ukraine-Politik: Putin soll spüren, dass er den Mund zu voll genommen hat, und langsam an seinem Bissen ersticken.
- Anfang November 2022 eskaliert die Situation erneut. Russische Medien zirkulieren die Behauptung, dass die Ukrainer an einer sogenannten schmutzigen Bombe bauen würden.
- Sullivan ist alarmiert, er befürchtet, dass man einen Vorwand sucht, um doch noch Nuklearwaffen einzusetzen.
- Schoigu kontaktiert Austin außerhalb der Bürozeiten des Pentagons. Sollten die Ukrainer eine schmutzige Bombe bereits haben, so Schoigu, werde Russland nuklear antworten.
- Austin sagt: "Ich glaube Ihnen nicht. Sie suchen einen Vorwand." Schoigu verspricht, die Antwort genau so weiterzuleiten.
- Sullivan telefoniert mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und drängt ihn dazu, sofort Inspekteure der Internationalen Atomenergie-Organisation einzuladen und ihnen Zutritt zu sämtlichen Einrichtungen in der Ukraine zu gestatten, die irgendetwas mit radioaktivem Material zu tun haben. Selenskyj verspricht, das zu tun, die Inspekteure besuchen die Einrichtungen und finden keinerlei Beweise für die russischen Behauptungen.
- Biden telefoniert mit den Staats- und Regierungschefs aller Nuklearmächte sowie einflussreicher Drittstaaten und bittet sie, auf Russland einzuwirken. Niemand dürfe in der Ukraine Nuklearwaffen einsetzen. Ein solcher Tabubruch könnte nicht nur zu einem Krieg zwischen Russland und den USA führen, sondern auch ein nukleares Wettrüsten lostreten, insbesondere könnten viele weitere Staaten den Besitz von Nuklearwaffen anstreben. Nach Woodwards Darstellung entsprechen alle kontaktierten Staats- und Regierungschefs Bidens Bitte. Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping verspricht Biden sogar, Putin persönlich anzurufen. Putin ist von Xis Anruf unangenehm überrascht.
- Xi setzt Putin unter Druck, und Sullivan erreicht, dass die Ukrainer den Russen die Zeit geben, Cherson geordnet zu räumen. Die Krise gilt damit als abgewendet.
- Woodward will auch von Leuten aus dem Trump-Lager erfahren haben, dass Donald Trump nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt siebenmal eigenmächtig mit Putin lange Gespräche geführt habe.
Woodward liefert hier ein starkes Indiz dafür, dass die NATO wirklich die "Boiling frog"-Strategie verfolgt. Das ist bitter für die Ukraine.
Nebenbei: Wenn Trump wirklich mit Putin gesprochen hat, und dies nicht auf Veranlassung der rechtmäßigen Regierung geschah, wovon man angesichts des ideologischen Grabens ausgehen muss, wäre dies ein maximal illoyaler und gefährlicher Akt. Außerdem wäre es ein Verbrechen: Der Logan Act verbietet es US-Bürgern, ohne Auftrag der Bundesregierung mit fremden Mächten zu verhandeln.
(30.10.2024, 18:04)Hinnerk2005 schrieb: "Ukraine is now struggling to survive, not to winDazu empfehle ich die neueste Folge von Eberhard Bühlers Podcast, dessen Einschätzung nicht so pessimistisch ist. Man sollte auch nicht die Wahlkampfkomponente übersehen; europäische Medien malen zurzeit in düstersten Farben ein Bild der Welt nach einem Wahlsieg Donald Trumps.
Russia is slicing through Ukrainian defences in parts of the battlefield
(...)
In private, his (Austin - Secretary of Defense) colleagues in the Pentagon, Western officials and many Ukrainian commanders are increasingly concerned about the direction of the war and Ukraine’s ability to hold back Russian advances over the next six months."
https://www.economist.com/europe/2024/10...not-to-win
Natürlich hat sich das Kriegsglück zurzeit gegen die Ukraine gewandt, aber "struggling to survive"? Das sehe ich auf den Lagekarten persönlich nicht, und auch nicht in den bildlich bestätigten Verlustlisten. Man muss sich ja auch fragen, woraus bestehen diese 480 km². Das Argument, dass Du in der Kursk-Frage vorgebracht hattest, gilt umgekehrt natürlich auch hier: 100 km² Ackerland sind ein geringer einzuschätzender operativer Erfolg als 10 km² dicht besiedelte Infrastruktur.
Und die eklige Geschichte kommt erst noch. Pokrowsk ist etwa so groß wie Bachmut, und der Kampf um diese Stadt kostete 42.000 Menschen das Leben. Es stellt sich also nicht die Frage, was ist bisher passiert, sondern was passiert als Nächstes, wenn die Russen ihre mutmaßlichen Angriffsziele erreichen.
Denn bis auf Wuhledar haben sie im Oktober in der Hauptsache Ackerland, Baumreihen und kleine Dörfer erobert.
(30.10.2024, 07:58)Quintus Fabius schrieb: Normal ist eine Frage des Kontext. Es ist nicht normal für die heutige Gesellschaft in dieser Bundesrepublik. Es ist für andere Länder aber absolut normal. Im übrigen verwendet auch die Ukraine solche Bilder:Du ignorierst aber gerade den Kontext, deswegen halte ich diesen Vergleich für absolut unangebracht. Die Ukrainer verteidigen sich gegen einen Angriff, der erklärtermaßen ihrer Unterwerfung dient. Saint Javelin war auch eine Art Meme, die unverhoffte Rettung. Das Z und der Heiligenschein hingegen verklären bewusst und gezielt einen verbrecherischen Angriffskrieg als heiligmäßigen Opfergang.
[Bild: https://www.saintjavelin.com/cdn/shop/pr...1646614519]
Ohne Kontext könnte man auch Parallelen herstellen zwischen z.B. diesem amerikanischen Propagandaposter aus dem Zweiten Weltkrieg und diesem Deutschen. Was natürlich Unsinn wäre. Beide Bilder verklären den Krieg als Spektakel, bedienen sich patriotischer Bilder, augenscheinlich ähneln sie einander. Doch steht das eine eben für den Kampf des Angegriffenen gegen den genozidalen Diktator, und das andere ruft zum Kampf für den genozidalen Diktator auf.