Deutsche Kolonien
#58
(31.05.2021, 21:34)Quintus Fabius schrieb: Aber selbst aus diesem Buch geht klar hervor, dass erstens: die übliche Darstellung des Geschehens so nicht stimmt

Du bezeichnest eine von manchen populärwissenschaftlichen Medien fälschlicherweise verwendete Argumentation als "übliche Darstellung", die es so in der Form aber gar nicht gibt. Weder der wissenschaftliche Dienst des Bundestags (der ja auch mit Blick auf die Anerkennung des Völkermords eine Rolle spielte) noch die Kolonialforschung folgt einem veralteten Forschungsstand, und gerade die Arbeit von Hull findet in beiden Bereichen großen Widerhall. Das passt halt nicht zur These mit dem soziokulturellen Narrativ.

Zitat:und zweitens: dass die Gründe für die Eskalation der Gewalt dort wesentlich komplexer waren und mehr in der militärischen Kultur zu suchen sind als in einem tatsächlichen Willen zum Völkermord. Isabel Hull beschreibt es im Prinzip so, dass der Völkermord das zwingende Resultat der deutschen Militärkultur war, so dass er zwar nicht geplant war, also keine Absicht im Sinne der heutigen Konvention hinter dem Geschehen stand, dass aber die Umstände auch ohne diese Absicht einen Völkermord herbei führten.

Jein, denn auch wenn die Gründe definitiv komplexer waren, zeichnet sie ein Bild von Trothas, dass durchsetzt ist von rassistischen Vernichtungsphantasien, anhand von Aussagen, Briefen und Befehlen sowohl aus seiner Zeit in Deutsch-Südwestafrika, wie auch von früheren Einsätzen beispielsweise während des Boxeraufstands. Ihr Ziel ist es dabei zu zeigen, dass genau diese Einstellung von Trothas dafür gesorgt hat, dass er sich für die Niederschlagung des Herero-Aufstands qualifizierte, womit sie der deutschen Politik selbst entsprechende Vernichtungsabsichten unterstellt, weil diese Teil der militärischen Kultur gewesen sein sollen. Aus diesem Grund überhöht sie auch die Einflussnahme des Kaisers, der den Ansichten von Trothas ja deutlich näher stand als Beispielsweise von Bülow. Aus dem Grund ist es durchaus auch angebracht, ihre Interpretation kritisch zu betrachten, was für jede Interpretation der Geschehnisse gilt.

Zitat:Das ist so für meine Position nicht ganz richtig. Beispielsweise führt Isabel Hull im Kapitel über die Verfolgung ausdrücklich mehrere Aufzeichnugnen von deutschen Soldaten an und zitiert diese auch. Auch diesen Aufzeichnungen geht klar hervor, dass die Verfolgung nicht dazu diente die Herero von den Wasserlöchern zu vertreiben, sondern dass es das Ziel der Verfolgung war erneut eine Schlacht zu führen, eine Entscheidungsschlacht zu erzwingen bzw. den Gegner in eine Schlacht zu verwickeln. Das zieht sich so durch sämtliche Aufzeichnungen der Verfolger.

Das Problem dabei ist aber, dass es nicht nur um eine (teilweise fiktive) Verfolgung geht, die so von den Truppen gar nicht durchgehalten werden konnte, sondern anschließend eine gezielte Verteidigung von Wasserlöchern, an denen zurückkehrenden Hereros aufgelauert wurde. Dies waren keine vereinzelten Einsätze, es gibt die Einsatzbefehle für verschiedene Einheiten, es gibt die Tagebücher, es gibt auch private Korrespondenzen, die belegen meines Erachtens recht eindeutig, was dort passierte. Ebenso im übrigen auch, dass entgegen des Vernichtungsbefehls Gefangene gemacht wurden, weil manche diesem Verdursten nicht zuschauen konnten.
Natürlich ist es falsch, die Region als wasserlose Sandwüste zu beschreiben, aber es ist auch keine bis zur Grenze gleichbleibende Savannenlandschaft. Vielmehr wird die Versorgungssituation umso schwieriger, je weiter nach Osten man sich bewegt, und auf die typischen Weidegründe folgt eine weitgehend wasserlose Gegend mit nur wenigen brauchbaren Wasserstellen, eine Wüste, aber keine klassische Sandwüste, die einem als erstes in den Sinn kommt.

Zitat:Und du wirst doch wohl nicht bestreiten, dass die Entscheidung die Omaheke zu durchqueren eindeutig von den Anführern der Herero so beschlossen wurde?! Die Anführer der Herero waren also Schuld daran, dass ihr Volk in der Omaheke dann aus Wassermangel erhebliche Verluste hatte.

Die Frage ist, welche andere Wahl sie tatsächlich hatten? Die Vorbereitungen für die Gefangenname und Zerschlagung der Herero als Kultur gingen noch von Leutwein aus, er hatte entsprechend improvisierte Konzentrationsanlagen am Waterberg geschaffen, und er war es auch, der bereits die Deportierung und die "Zuteilung" als Arbeitskraft sowie die Verteilung von Viehbeständen organisierte (bzw. organisieren ließ). Von Trotha führte das zwar zunächst weiter fort, ließ aber wie von mir erwähnt keine Möglichkeit zur Kapitulation rund um die Schlacht am Waterberg zu.
Lau hat in ihren Studien die wenigen Herero-Quellen verarbeitet, die es zu diesem Thema überhaupt gibt, und die belegen, dass die Herero fest von einem Angebot zur Kapitulation ausgingen, weil das der üblichen Politik entsprach. Hull zieht daraus im übrigen den Schluss, dass es vermutlich deshalb auch im Vorfeld der Schlacht am Waterberg keine konzentrierten Aktionen der Herero gegen die deutschen Kräfte gab, obwohl sich dafür Möglichkeiten boten. Dieses sonst übliche Angebot gab es aber nicht, es gab auch keine Versuche einer Kontaktaufnahme von Seiten von Trothas, und zumindest aus einigen Tagebucheinträgen ist heraus zu lesen, dass den Herero die Kontaktaufnahme selbst auch unmöglich gemacht wurde (wenn sie eine solche beabsichtigt haben, was nicht mehr nachvollziehbar ist). Von Trotha wollte die Schlacht, er wollte den kriegerischen Erfolg. Insofern war es die Entscheidung der Hereros, die Omaheke zu durchqueren, aber sie hatten auch nicht so viele Alternativen.

Zitat:Das beißt sich doch mit der Aussage von dir weiter oben, dass dies am Waterberg gar nicht die Absicht von Trothas war.

Da hast du mich missverstanden, der Plan von Trothas, die Entscheidung militärisch herbei zu führen misslang, er ging davon aus, dass sich die abgesetzten Hereros gegen die Siedlungsgebiete wenden könnten. Bloß gab es von einer solchen Bewegung keine Anzeichen, was auch ein Grund war, warum er die Hereros erst so spät verfolgen ließ. Als klar wurde, dass sie sich hin zur Grenze wendeten war auch klar, dass sie diese in der Zahl gar nicht durchqueren konnte. Anschließend ließ er die bekannten Wasserstellen im Bereich der westlichen Omaheke sichern und dort auf jeden schießen, der aus dem Osten zurückkehrte.

Zitat:Was mich an der ganzen Sache verwundert ist, wie sehr man sich hier ohnehin auf die Person von Trothas versteift und auf das Geschehen in der Omaheke, statt hier die unsagbaren Zustände in den Konzentrationslagern und bei der Zwangsarbeit (de facto Versklavung) mehr in den Vordergrund zu stellen.

Weil er die zentrale Figur ist, und seine Äußerungen und Handlungen, wie effektiv sie nun letztlich auch gewesen sein mögen, die Absicht nahelegen.

Zitat:Oder das deutsche Truppen unterschiedslos und massenweise Herero erschossen, und zwar nach der Rücknahme des Befehls von Trothas, also genau genommen entgegen den geltenden Befehlen. Dass die Gewalt gegen die Herero erst zum Schluss hin so richtig Fahrt aufnahm und dies ganz unabhängig von den Befehlen von Trothas und dem Geschehen in der Omaheke?!

Die Bekanntmachung und der Befehl stehen deshalb immer wieder im Vordergrund, weil sie plakativ die Absichten von Trothas auf den Punkt bringen, sie sind aber beide nicht besonders relevant, weder für die Absicht, erst recht nicht für die Ausführung. In dem Punkt stimme ich dir zu. Deshalb ist es nachvollziehbar, warum populärwissenschaftliche Artikel sich darum drehen, aber es ergibt keinen Sinn, sie zum Zentrum einer wissenschaftlichen Betrachtung zu machen. Allerdings geschieht das soweit ich das sehe nicht (mehr).
Aus diesem Grund ist auch die Kontinuität losgelöst von Befehl und Rücknahme wenig verwunderlich, es waren noch immer der gleiche Protagonist mit den gleichen Absichten kontrollierende Figur der Geschehnisse, bis hin zu der Organisation von Konzentrationslagern (auch wenn es die schon vorher gab).

Zitat:Nehmen wir mal aus dem vorliegenden Fall nur ein einziges Beispiel: Herero bedeutete im Sprachgebrauch der meisten der damaligen Offiziere und Deutschen: ein männlicher bewaffneter Krieger dieses Volkes. Wenn es also hieß: wir beschlossen also die Herero welche wir am Ort xy antrafen alle zu erschießen, ist damit nicht gemeint dass alle erschossen wurden - sondern dass die bewaffneten Männer erschossen wurden.

Die Erklärung ist naheliegend, weil in der Regel solche Stammesbegriffe primär auf die Männer angewendet wurden, die wiederum allesamt als "Krieger" galten, sofern sie sich dafür körperlich eigneten. Es wurden allerdings genauso üblicherweise Frauen und Kinder den Männern zugeordnet, ohne jeweils explizit erwähnt zu werden, auch wenn es etwa um Meldelisten oder ähnliches geht. Schaut man sich etwa von Trothas Bekanntmachung an, in der von jedem "Herero mit oder ohne Gewehr" gesprochen wird, so ergibt "männlicher bewaffneter Krieger" schon rein logisch keinen Sinn. Daher muss man die Verwendung des Begriffs schon differenzierter sehen, etwa ob es sich um interne militärische Dokumente handelte, oder persönliche Notizen, oder öffentliche Bekanntmachungen. Darüber hinaus gibt es ja auch etliche Dokumente, in denen explizit Frauen und Kinder genannt werden, die genauso berücksichtigt werden müssen.

Zitat:Legt man deine Definition von Völkermord an, oder die von Isabel Hull, dann besteht die menschliche Geschichte in weiten Teilen aus Völkermorden. Dann war Völkermord die ganze Geschichte hindurch die vorherrschende Normalität. Allein die sich daraus ergebende Realitivierung kann ich aufgrund gewisser Verantwortlichkeiten Deutschlands im 20 Jahrhundert nicht gut heißen. Aber selbst unabhängig davon ist das eine einfach nur negative Entwicklung, welche weder der Gerechtigkeit dient noch der Aussöhnung.

Die Definition von Hull eignet sich vor allem dazu, das Kaiserreich von anderen Kolonialmächten abzugrenzen und so am ehesten andere Kolonialverbrechen zu bagatellisieren (auch wenn sie das meines Wissens nicht macht).
Meine Definition gibt es in dem Sinn nicht, ich orientiere mich weitgehend an der UN-Definition, wobei ich der kontroversen Bedeutung von "teilweise" nicht zu viel Beachtung schenke, weil das für mich nur ein Nebenkriegs- oder sogar Relativierungsschauplatz ist. Weit mehr jedenfalls, als das Gefahr besteht, irgendein Verbrechen dadurch zu relativieren, in dem man bei anderen eine übergeordnete Absicht herausstellt. Denn um nichts andere geht es letztlich, wenn man von Völkermord spricht.

Zitat:Als Buchempfehlung möchte ich in diesem Kontext nennen: Der Schuldkomplex: Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa - von Pascal Bruckner.

Genauso wie "Der eingebildete Rassismus" ein gutes Buch, in dem Kontext finde ich allerdings beide unpassend. Weil es wieder eine Verbindung herstellt, die in meinen Augen das eigentliche Problem darstellt: wenn geschichtliche Aufarbeitung von äußeren Faktoren gelenkt wird, völlig egal ob es sich dabei um soziokulturelle Narrative oder juristische Verantwortlichkeiten handelt, kommt man weder der Wahrheit näher, noch wird man irgendetwas daraus lernen.
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