Deutsche Kolonien
#59
(03.06.2021, 00:07)Quintus Fabius schrieb: Der aktuelle wissenschaftliche Forschungsstand ist aber eben nicht so einheitlich wie es meist dargestellt wird. Ganz allgemein ist die Geschichts"wissenschaft" oft mehr eine Aussage über die Gegenwart als über die Vergangenheit, sie unterliegt massiv dem Narrativ der Gegenwart.

Für mich liegt der wissenschaftliche Forschungsstand primär in der Quellenaufarbeitung, wozu Sammlung und Einordnung gehört (darunter fallen etwa auch die von dir erwähnten zeitgenössischen Erklärungen zu Begriffen, die heute anders aufgefasst werden), darauf bauen dann die zeitgenössischen Interpretationen auf, die einerseits natürlich die Wahrnehmung bestimmter Ereignisse in einer bestimmten Zeit bestimmen, zum anderen aber auch selbst von der Zeit und der "Gesinnung" des Autors geprägt sind, mal sehr stark, mal kaum merklich, aber letztlich nie völlig losgelöst davon.
Ersteres bildet die wissenschaftliche Basis, auf der letzteres dann jeweils gedeihen kann, durchaus auch in unterschiedlichste Richtungen. Dein Argument war aber, dass der aktuelle Stand, von dem du dann wieder sagst, dass es ihn nicht gibt, beispielsweise in der Politik keine Berücksichtigung findet. Im Endeffekt willst du damit nur ausdrücken, dass dir die Interpretationen der Quellenlage, die von der Regierung verwendet werden, dir nicht gefallen. Das ist legitim, aber daraus kann man keine qualitative Aussage ableiten.

Zitat:Ich habe ja bewusst durchgehend keine Zahlen genannt.

Ich auch nicht, weil die Zahlen mangels einheitlicher Datenerhebung willkürlich interpretiert werden können, letztlich aber sowieso nur bedingte Relevanz bei der Bewertung haben, sofern man nicht nur solche Fälle, bei denen die vollständige Vernichtung gelingt, als Völkermord bezeichnen will.

Zitat:Schneider-Waterberg hat meiner Ansicht nach klar bewiesen, dass am Waterberg keineswegs so viele Herero waren wie es gemeinhin behauptet wird, und dass also deutlich weniger durch die Omaheke flohen und folglich dort auch nicht so viele umgekommen sind.

Nein, er hat das aufgrund der ihm bekannten Quellen interpretiert, genauso wie andere zuvor aufgrund anderer Quellen zu anderen Interpretationen gekommen sind. Und genau da liegt ja wieder das Problem, er ist primär ein Sammler von Informationen, an die andere so nicht heran gekommen sind, das muss man ihm zu Gute halten, er ist aber kein Wissenschaftler und interpretiert diese Informationen mit einer recht starken Agenda (wie mir scheint, ich kenne ihn ja nicht, aber selbst in dem von dir verlinkten, wohlwollenden Spiegel-Artikel wird das thematisiert), und darauf lässt sich meines Erachtens eben so nicht aufbauen. Denn das bedeutet nur und ausschließlich Willkürlichkeit, die einem halt in dem einen Fall gefällt und in dem anderen nicht.

Zitat:Ich habe ja explizit geschrieben, dass in den Lagern, bei der Zwangsarbeit und durch Seuchen nach dem Geschehen in der Omaheke immense Zahlen an Herero umgekommen sind. Mir geht es also gar nicht so sehr darum ob hier nicht insgesamt eine Mehrheit der Herero umgekommen ist, auch nicht darum aus welchem Geist heraus sie umgekommen sind, sondern primär darum, dass sie eben nicht mehrheitlich in der Omaheke umkamen, sondern geraume Zeit danach und aus anderne Gründen.

Betrachtet man alle Quellen, liegt es nahe anzunehmen, dass die Zahl der Herero, die in der Omaheke umkamen geringer ist, als das in der Vergangenheit vermutet wurde. Ja, dem kann ich folgen, auch wenn ich anhand der Gesamtheit der Quellen von deutlich dramatischeren Verhältnissen ausgehen muss, als du sie hier anführst.
Ich kenne aber keine aktuellen Interpretationen, die den Völkermord nur mit eben diesen Aktionen verknüpfen. Davon ging man vor über fünfzig Jahren aus, als die dahin gehende Forschung am Anfang stand und die Quellenlage insgesamt deutlich dünner war (es wusste ja zu dem Zeitpunkt beispielsweise noch niemand, was es zu den Geschehnissen in namibischen Archiven lagert, auf die westdeutschen Sammlungen hatte Drechsler zu dieser Zeit auch nur einen sehr beschränkten Zugriff)

Zitat:Mal ernsthaft: wie lange sollen die Herero denn nachdem sie alles Wasser aufgebraucht bzw verseucht haben in diesem Klima während der Trockenzeit dort überlebt haben? Nach zwei Tagen ohne Wasser bist du dort bereits am Ende, nach drei bis vier Tagen tot.

Sie waren doch nicht völlig ohne Wasser, das hast doch explizit du selbst angeführt und es ist auch korrekt. Nur reichten die Wasserstellen in der Omaheke nicht aus, um die Zahl an Hereros und deren verbleibendes Vieh zu versorgen. Die Annahme, dass die meisten bereits nach drei oder vier Tagen tot waren ist völlig willkürlich und deckt sich nicht mit der Quellenlage. Denn es gab jene, die die Durchquerung schafften, es gab jene, die nach Norden und Süden auswichen, und es gab auch jene, die zurück kehrten. Ich betone das noch einmal, auch wenn du immer wieder das Gegenteil behauptest, nur weil ein Teil der Quellen vermeintlich keine Erkenntnisse dazu hat, bedeutet dies nicht, dass dadurch alle anderen Quellen, die von entsprechenden Ereignissen berichten, falsch sind. In der Gesamtheit muss man von einer anderen Quantität ausgehen, wie gesagt bin ich da bei dir, aber trotzdem gab es die Aufeinandertreffen, das gezielte Fernhalten von den größeren Wasserquellen im westlichen Bereich der Omaheke, auch die (gut dokumentierten) Gefangennahmen. Das ist keine Fiktion.

Zitat:Da hast du schon recht, und diese Quellen sind genau so kritisch zu betrachten. Gerade deshalb ! schätze die Arbeiten Schneider-Waterbergs so, weil dieser seine Aussagen nicht allein auf die Originalquellen abstütz, sondern insbesondere auch auf Logik und gesunden Menschenverstand und beide gebieten, dass das Geschehen so nicht stattgefunden haben kann.

Das sehe ich anders, für mich ist er primär wegen seiner Originalquellen interessant, seinen Interpretationen kann ich aufgrund der Willkürlichkeit wenig abgewinnen. Und ich behaupte, dass mir Logik auffällt, wenn ich sie sehe Wink

Zitat:Unabhängig von der Quellenvielfalt gibt es einfach zwingende logische Fakten. Wenn eine Quelle etwas behauptet was einfach rein physisch nicht möglich ist, dann muss diese Quelle falsch sein.

Sofern zweifelsfrei festgestellt werden kann, dass etwas physisch nicht möglich ist. Und das ist eben nicht so einfach. In ähnlichem Maße wie etwas nicht gleich wahrscheinlich wird, nur weil es vorstellbar ist, kann auch etwas nicht unwahrscheinlich sein, nur weil es nicht vorstellbar ist. Und nur weil ein Teil einer Aussage falsch ist, muss nicht die gesamte Aussage falsch sein. Diese kritische Bewertung von Quellen ist die Hauptarbeit der Geisteswissenschaften, häufig geleistet von Leuten, die dann irgendwo in Danksagungen erwähnt werden. Sie ist aber die notwendige Basis, und häufig nicht vorhanden, wenn es um Einzelschriften geht.

Zitat:Ein Blick auf Google Maps zeigt dass dem nicht der Fall ist.

Bei allem Respekt, aber das kannst du über Google Maps nicht feststellen, und ohne hier zu viel dazu sagen zu wollen, in dem Punkt weiß ich sehr genau, wovon ich rede.

Zitat:Gerade dem will ich explizit widersprechen. Von Trotha wollte entsprechend seiner Indoktrination wie auch der militärischen Kultur im Reich entsprechend eine Entscheidungsschlacht wie auch einen absoluten militärischen Sieg.

Er sollte und wollte das "Herero-Problem" dauerhaft und militärisch ehrenvoll lösen, insofern stimme ich dir ja durchaus zu und habe das auch so ausgeführt, dass er deshalb bewusst die Entscheidungsschlacht und den militärischen Sieg wollte. Aus dem Grund hat er auch die Ergebnisse der Schlacht zumindest nach außen hin aufgebauscht, um genau diesen Eindruck des Erfolgs zu erzielen. Trotzdem musste er noch eine tatsächliche Lösung finden, und auch wenn ihm persönlich sicherlich eine weitere, diesmal endgültige Entscheidungsschlacht, eher zugesagt hätte, so hätte diese durchaus auch weitere Fragen aufgeworfen. Ich will damit nicht sagen, dass er deshalb auf eine solche verzichtet hätte, aber ungelegen kam ihm der weitere Verlauf nicht.

Zitat:Fakt ist, dass unser heutiges Denken sehr weitgehend von dem damaligen Denken abweicht und dass aus dieser Differgenz heraus viele Dinge welche damals geschahen leicht fehlinterpretiert werden können.

Natürlich, aber deshalb verweise ich ja gern noch mal auf die öffentliche Berichterstattung zur damaligen Zeit, die geprägt war von einer sehr selektiven, aber sicherlich nicht die eigenen Absichten und Ausführungen kritisch hinterfragenden Quellenlage, und trotzdem zu dem Schluss kam, dass es im Kern um die Vernichtung der Herero ging.
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