Deutsche Kolonien
#61
(16.06.2021, 22:27)Quintus Fabius schrieb: Die Anführer der Herero wollten zunächst einmal sich selbst, und dann ihren Wohlstand (in Form von Rinderherden) retten - und in keinster Weise ihr Volk. Deshalb führten sie die Herero welche am Waterberg gelagert hatten ins Verderben, aufgrund ihrer rein egostischen Zielsetzung.

Es gibt gar keine ausreichende Zahl an Primärquellen, um diese These überhaupt beweisen zu können. Insofern basiert sie nur auf einigen Fragmenten, die sich natürlich so interpretieren lassen - oder eben anders. Genau da sind wir aber wieder bei dem Problem, dass ich schon mehrfach angesprochen habe: beständig sprichst du davon, dass "alle Quellen" eine ganz klare Aussage treffen, die dem aktuellen Forschungsstand eklatant widerspricht, obwohl das nachweislich nicht der Fall ist. Ich nehme da als Beispiel den Artikel "The German-Herero War of 1904: Revisionism of Genocide or Imaginary Historiography?" von Dedering, der klar darlegt, dass durch geschickte Quellenauswahl ein völlig falscher Eindruck von den Ereignissen gewonnen werden kann (was ja beispielsweise bei der Vereinnahmung Laus durch revisionistische Gruppen geschehen ist).

Zitat:Wo liegt da eine Verantwortung der deutschen Truppen?

Der ganze Sinn und Zweck der Aktionen war die Auflösung der Gemeinschaft der Herero, um die wiederkehrenden Probleme ein für alle Mal in den Griff zu bekommen. Ihnen sollte die Lebensgrundlage (Vieh und Land) entzogen werden, sie sollten ihre sozialen Strukturen verlieren, und sie sollten als Arbeitsmaterial möglichst breit verteilt werden - Tote wurden dabei billigend in Kauf genommen, anhand der Befehle (und damit ist nicht primär der Vernichtungsbefehl gemeint), sogar mehr als das.
Dies war die deutsche Verantwortung von Anfang an, das war der Plan Leutweins, über den Berlin Kenntnis hatte, diesen Plan hat von Trotha übernommen, der die Gewalt darin deutlich steigerte, und der Plan wurde soweit umgesetzt, wie dies personell, organisatorisch und damit realistisch möglich war. Dass viele Aspekte des Plans tatsächlich unrealistisch waren, spielt da nur eine untergeordnete Rolle.

Wir können jetzt noch ewig darüber diskutieren, wie groß welche Verantwortung für die Zahl der Toten in der Omaheke ist, aber wohin soll das führen? Ich verstehe deinen Standpunkt und stimme dir zu, dass das letzte Kapitel aufgrund von bisher nicht oder kaum berücksichtigter Quellen noch nicht geschrieben ist. Es gibt für mich aber keinen Grund anzunehmen, um bei dem Bild zu bleiben, dass sich dadurch der Inhalt des Buches elementar ändern sollte. Warum? Weil bisher jede Erweiterung der Informationsbasis dafür gesorgt hat, dass Unklarheiten beseitigt und das Gesamtbild präzisiert wurde, aber keine einzige eine eklatante Fehlinterpretation der Gesamtsituation nahelegt. Und das gilt auch für die Aspekte, die du hier eingebracht hast (und zum Teil ja auch Berücksichtigung finden, bzw. zum Teil ja auch aus aktuellen Publikationen stammen).

Zitat:Und wenn man nun erklärt, dass absolute jede Maßnahme welche die Zielsetzung hat eine Gemeinschaft zu zerstören Völkermord ist, dann wimmelt es nur noch von Völkermorden und dass ist für mich eine Relativierung solcher Verbrechen welche ich hochproblematisch finde.

Das Verbrechen in der jeweiligen Dimension steht für sich, ob eine Relativierung erfolgt hängt nicht damit zusammen, welchen Namen man vergibt oder wie viele derartige Verbrechen es gab, sondern mit welcher Motivation man dieses bewertet. Das Argument, eine zu hohe Zahl könnte relativierend wirken, ist in der hinsichtlich willkürlich; genauso könnte man sagen, dass durch die absichtliche Nichtbenennung eine Relativierung stattfindet.

Zitat:Dessen ungeachtet und trotz aller Unterschiede im Detail verkennt man heute allgemein (das gilt für alle Quellen), dass man damals eine andere, pompösere und bildgewaltigere Sprache pflegte als heute und dass man die Semantik und die damaligen Sprachgepflogenheiten bei jeder Quellenkritik halt auch berücksichtigen müsste. Wenn es da heißt: man wolle die Herero in einer Schlacht vernichten, dann bedeutet dies im Kontext der Zeit und der damaligen Sprache eben nicht, dass man die Gemeinschaft der Herero im heutigen Sinne vernichten wollte.

Das ist doch aber Allgemeingut, oder willst du der weltweiten geisteswissenschaftlichen Forschung unterstellen, dass sie die Notwendigkeit einer zeitgenössischen Interpretation von Quellen verkennt? Natürlich kann eine Aussage wie "die Herero sollten in einer Schlacht vernichtet werden" auf vielerlei Arten verstanden werden, wie bereits gesagt ist es ein wesentlicher Teil der wissenschaftlichen Arbeit, die tatsächliche Intention heraus zu finden. Gerade das Argument zeigt meines Erachtens auch, dass jeder Hobbyist, und dazu gehören in dem Fall wohl wir beide, sehr vorsichtig sein sollte, wenn er nicht anhand von wissenschaftlich geprüften Interpretationen, sondern rein aufgrund der Quellenlage argumentiert. Da befindet man sich schnell auf dem Niveau populärwissenschaftlicher Medien.

Zitat:Wenn man den Begriff so ausgeweitet verwenden will, dann ist das im weiteren nur eine Frage der Definition. Ich finde es daher auch schade, dass wir die Diskussion zu viel in der Art einer Schuldfrage führen, und ob es Völkermord war oder nicht. Die Einordnung ist eigentlich gar nicht relevant für die Ergründung des damaligen Geschehens. Will man es so definieren, dann von mir aus, dann definiere man es eben so.

Natürlich ist es nur eine Frage der Definition, wie jeder andere Begriff auch. Und für die Forschung spielt die Einordnung keine Rolle, sondern umgekehrt ergibt sie sich allenfalls aus eben dieser. Genau darüber aber haben wir diskutiert, zumindest war das der Punkt, an dem ich in die Diskussion eingestiegen bin. Was die "Ergründung des damaligen Geschehens" in der Tiefe angeht fehlt mir völlig die Kompetenz, dazu etwas auf interpretativer Ebene beizutragen. Da bin ich dann wie zuvor schon erwähnt nur Papagei der geisteswissenschaftlichen Forschung.
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