Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg
#9
Mal ein paar grundsätzliche Lehren die sich meiner Meinung nach aus diesem Krieg ergeben:

1. Die strategisch/politische Ebene

1.1. Nationalgefühl / Ganzheitlicher Krieg

Es zeigt sich meiner Auffassung nach, dass die Vorstellung vom Krieg welche im Westen TM vorherrschend ist, dass Armeen gegen Armeen kämpfen, unter Einhaltung von Regularien - und die Zivilbevölkerung außen vor gelassen wird so falsch sind wie sie es seit jeher waren. Jeder moderne Krieg muss wesentlich ganzheitlicher und totaler gedacht und konzipiert werden, ansonsten verliert man ihn. Das reicht sehr weit über die Einbeziehung von Medien / Informationskriegsführung und psychologische Kriegsführung hinaus. Meiner Überzeugung nach beweist der aktuelle Krieg vor allem anderen, dass die Kultur, die Sozialkultur einer Gesellschaft und die Verbundenheit einer Gesellschaft mit der Nation absolut wesentlich und entscheidend sind für die Frage der militärischen Leistungsfähigkeit. Wenn eine Gesellschaft sich ganzheitlich wehrt, dann erhält sie Anerkennung und Unterstützung, das reicht also weit über die Armee hinaus.

Eine Armee ohne Nation ist daher genau so sinnlos wie eine Nation ohne Armee.

1.2. Die Frage der Quantität / Konzipierung von Streitkräften

Die heutigen Armeen sind zu klein, ihre Quantität ist unzureichend um in einem Krieg zu bestehen der wie bei 1.1. ausgeführt ein Krieg nicht gegen feindliche Streitkräfte, sondern gegen eine Nation in ihrer Gesamtheit ist. Es nützt rein gar nichts wenn ein paar Großkampfverbände wie Inseln im truppenleeren Raum vor sich hin operieren, wenn man nicht nur andere gleichermaßen insulare Großkampfverbände gegen sich hat, sondern stattdessen eine Gesellschaft die ganzheitlich gegen einen kämpft, auf allen Ebenen.

Aber selbst für den rein konventionellen Teil, den Kampf konventioneller Großkampfverbände ist die Quantität entscheidend, und insbesondere die Frage von Reserven. Um der Form welche der moderne Krieg angenommen hat zu genügen, benötigt man Einheiten die über eine ausreichende Quantität verfügen (wie es ja auch schon einer meiner Vorredner hier bereits angerissen hat). Damit gerät man aber in einen Widerspruch zu der Frage der Beweglichkeit und Geschwindigkeit. Die Problemstellung wie man eine größere Quantität bei zugleich größerer Beweglichkeit und höherer Gesamtgeschwindigkeit bereitstellen und aktiv einsetzen soll, ist meiner Ansicht nach wesentlich für die Frage wie man im weiteren seine Streitkräfte (im weitesten Sinne) konzipiert, ausrüstet und ausbildet.

Die zwingende Schlussfolgerung ist daher auch, dass man einen High / Low Mix benötigt, wobei im Low Bereich eine erhebliche Quantität vorgehalten werden muss.

1.3. Informationskriegsführung / Einflussnahme und Manipulation

Aufgrund der Smartphone und Soziale-Medien Revolution kann man im modernen Informationskrieg selbst als deutlich unterlegener eine immense politische Einfflusnahme erzielen, die weit überproportional zu dem tatsächlichen Geschehen ist. Selbst unbedeutende geringfügige Ereignisse können immens und in noch nie dagewesener Weise ausgeschlachtet und zur Manipulation eingesetzt werden. Dem wird man begegnen müssen durch die rigide Kontrolle und Unterbindung von Informationen - und zugleich durch eine Schwemme eigener Informationen mit dem Ziel der Gegenmanipulation oder zumindest der Verschleierung. Dabei wird es dann gar keine Rolle spielen, ob diese Daten stimmen, wichtig ist allein die Menge der (falschen) Daten und dass man richtige Daten so weit wie möglich aktiv bekämpft.

Das kann nur gelingen, wenn man die entsprechende Manipulation der Informationen bereits im Vorab (!) massiv vorbereitet, so dass man entsprechend eine komplette Informationswaffe bereits vor Kriegsausbruch bereit hält.

1.4. Der Erstschlag / Frühe Entscheidungs"schlachten"

Wie von mir seit jeher propagiert ist der erste Angriff absolut entscheidend, und kann mit diesem der ganze Krieg stehen und fallen. Entsprechend müssen die Streitkräfte explizit dafür ausgerichtet werden, so früh wie möglich eine "Entscheidungsschlacht" zu führen, um den konventionellen Krieg dadurch so weit wie möglich abzukürzen. Das darf man sich nicht wie eine bisherige Schlacht im Sinne eines bloßen Kampfes von Verbänden vorstellen, dass muss schon auch ganzheitlich gedacht werden.

Diese möglichst frühzeitige "Entscheidungsschlacht" wird zwingend sehr hohe Verluste erzeugen, weshalb alle Verbände so aufgestellt werden müssen, dass sie diese wegstecken und trotzdem noch kampffähig bleiben. Dazu genügt bloße Quantität nicht, einfach ein paar Brigaden mehr sind unzureichend. Das geht weit über die bloße Zahl der Einheiten hinaus, zumal ein Gros dieser Einheiten ja nur herumstehen wird und sich eben nicht beteiligen kann. Die Frage ist vielmehr, wie man möglichst viele Einheiten zugleich in den Kampf bringt. Das entscheidende Kennzeichen der Auftaktschlacht wird die Simultantität sein, und je besser man darin ist, desto eher verschiebt man zugleich bei Beginn das ganze Gleichgewicht derart, dass der Feind sich bis zu seiner Niederlage nicht mehr einfängt. Das ist beispielsweise von den Russen so geplant worden, wurde aber eben nicht richtig durchgeführt und scheiterte daher.

Umgekehrt muss man damit rechnen, dass der Gegner zu den ganz genau gleichen Schlußfolgerungen kommt und entsprechend immer mit einem feindlichen Überraschungsangriff mit dem Ziel einer sofortigen Entscheidungsschlacht rechnen, dass oben schon angerissene Pearl Harbour Szenario (im weitesten Sinne).

1.5. Organisierte Gewalt / Gewaltkultur

Ohne jetzt unnötiger Brutalität das Wort reden zu wollen, wird es im modernen Krieg ein Vorteil sein, wenn man gleich zu Beginn mit maximal möglicher Brutalität und Gewalttätigkeit vorgeht. Die Betonung liegt hier auf maximal möglich - also das was praktisch machbar ist. Je heftiger die Gewalt die man beim ersten Schlag einsetzt, desto eher erlangt man gleich von Beginn an eine sehr vorteilhafte Position. Dies erfordert aber auch eine entsprechende militärische und gesellschaftliche Kultur um dies auch real praktisch tun zu können. Von den dafür notwendigen Einstellungen sind wir hier in dieser Bundesrepublik meiner Meinung nach Welten entfernt.

Umgekehrt müssen wir uns genau deshalb explizit darauf vorbereiten, mit genau so einem deutlich höheren Gewaltlevel konfrontiert zu werden und trotzdem kriegsfähig zu bleiben. Die dafür notwendige innere militärische Kultur wäre zumindest theoretisch herstellbar. Wenn wir nicht akzeptieren, dass ernsthafter Krieg eben nicht so stattfindet wie man sich das selbst in weiten Teilen der Bundeswehr so vorstellt, wird man durch die Konfrontation mit dem was hier real möglich ist untergehen. Wir benötigen daher eine deutlich gewalttätigere militärische Kultur.

1.6. Effektivität vs Effizienz / Vorratshaltung

Es zeigt sich einmal mehr ein gewisses Primat der Effektivität vor der Effizienz. Die wirtschaftlichsten Lösungens sind nicht die sinnvollsten und diesen Grundsatz kann man sehr weitgehend auf vieles übertragen, bis hin zur Beschaffung. Zudem benötigen wir bereits im Friedensbetrieb durchgehend erhebliche Lager und Reserven von Wirkmitteln, Ersatzteilen, Treibstoff, sonstigem Material und genaue Pläne wie man sich Dual Use Güter aus dem zivilen Bereich holt, wo exakt man was exakt requirieren kann und was für zivile Möglichkeiten wie eingesetzt werden können. Das setzt natürlich auch den Willen und die gesetzlichen Grundlagen für die Requierierung ziviler Bereiche durch das Militär voraus.

1.7. Zivilschutz / private Katastrophenvorsorge

Der Zivilschutz steht im Prinzip auf einem gesunden Fundament. Von dort muss er massiv ausgebaut werden, vor allem im Bereich ABC Abwehr (die heute dem THW fehlt) und im Bereich Aufrechterhaltung der Kommunikation (fehlt heute dem THW ebenso). Das reicht aber natürlich nicht. Um eine deutlich resilentere Gesellschaft aufzustellen wird es endlich notwendig werden, dass die Bürger selbst anfangen private Katastrophenvorsorge zu betreiben, durch Vorratshaltung, durch das Erlangen von Kenntnissen und das Vorhalten bestimmter Güter und Vorrichtungen. Die Gesellschaft ist hier und heute in diesem Bereich katastrophal aufgestellt. Ein Zusammenbruch des Verteidigungswillens der Gesellschaft aufgrund dieser Problemstellung ist wahrscheinlich. Ein entsprechendes Bewusstsein für diese Frage müsste überhaupt erstmal geschaffen werden, dazu müsste man schon in den Grundschulen anfangen.

Fortsetzung folgt
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RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - von Quintus Fabius - 06.03.2022, 00:57
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