Russland vs. Ukraine
Damit nicht alles unter den Tisch fällt …

Zur geostrategischen Lage:

Die Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat in der Ukraine gemischte Reaktionen ausgelöst. Während Präsident Wolodymyr Selenskyj Trump telefonisch gratulierte – in einem Gespräch, dem auch Trump-Unterstützer Elon Musk zugeschaltet war (Quelle) –, äußeren andere Stimmen Zweifel an Trumps Absichten (Quelle). Gerüchtehalber soll sein "24-Stunden-Friedensplan" eine entmilitarisierte Pufferzone und eine Verschiebung des NATO-Beitritts der Ukraine um 20 Jahre beinhalten, wobei widersprüchliche Berichte kursieren, welche Sicherheitsgarantien die Ukraine erhalten würde. Kiew wies die Berichte als unglaubwürdig zurück. (Quelle)

Zur geostrategischen Lage, part deux:

In Kursk ist es erstmals zu Kämpfen zwischen ukrainischen und nordkoreanischen Truppen gekommen. (Quelle) Südkorea will ausdrücklich nicht ausschließen, die Ukraine künftig mit Waffenlieferungen zu unterstützen. (Quelle)

Zur operativen Lage:

Igor Girkin alias Strelkow ist ja dazu übergegangen, Fragen zu beantworten, die Z-Blogger und besorgte Russen ihm schicken. In seinem neuesten Brief vertritt er die Auffassung, dass aktuell "weder die Ukraine noch Russland in der Lage sind, einen entscheidenden Sieg zu erringen, die sogenannte Ukraine aufgrund mangelnder Ressourcen, Russland aufgrund der Machtbefugnisse der Behörden". Die Behörden würden sich nämlich fürchten, "die Situation während der Mobilisierung nicht aufrechterhalten zu können".

Girkin kritisiert in scharfen Worten, dass Russland überhaupt behaupte, zu Verhandlungen bereit zu sein: "Anscheinend haben unsere 'Ältesten' aufgrund beginnender Demenz die Grundlagen politischer Psychologie vergessen". Denn das "Zeigen von Schwäche während der Auseinandersetzung" sei ein "sicherer Weg zu Schande und Niederlage". Sogar der "berühmt-berüchtigte Kompromiss ist einfacher und schneller zu erreichen, wenn man stur die Bereitschaft demonstriert, bis zum bitteren Ende zu kämpfen."

Es sei "typisch", so Girkin weiter, "dass auf strategischer Ebene irrelevante Erfolge im Donbass – für die Ukrainer von Anfang an eine nachrangige Front – in unserem Land von der Propaganda als Zusammenbruch der Verteidigung verkauft werden". Doch "gleichzeitig ignoriert die Propaganda hartnäckig unangenehme und alarmierende Entwicklungen in Gebieten, die für den Feind wichtiger sind: Charkiw (Woltschansk, Kupjansk), Kursk (Sudscha). Die Kämpfe sind äußerst heftig, die Front ist im Wesentlichen eingefroren, gleichzeitig nehmen die Angriffe auf Ziele in der Tiefe des Raumes von Woche zu Woche zu (strategisch bedeutende Ziele eingeschlossen) und verursachen immer merklichere Schäden."

"Aus den Berichten geht klar hervor, dass der Feind Reserven hat und spart. Daher ist es einfach dumm, von einem 'bevorstehenden Zusammenbruch' seiner Front aufgrund des Verlusts mehrerer Städte und Siedlungen städtischen Typs¹ in der Volksrepublik Donetsk zu sprechen. Der Feind hält seit drei Monaten das regionale Zentrum² der 'alten Regionen' und die russische Armee kann nichts tun!"

Girkin schließt: "Warum also erwarten, dass die aus Übersee kontrollierten Kiewer Bastarde plötzlich einem Waffenstillstand zu für Moskau günstigen Bedingungen zustimmen? Die Front bleibt im Großen und Ganzen weiterhin stabil und verschlingt im großen Maße russische Leben und Ressourcen. Wenn die Waage deutlich zugunsten Moskaus ausschlägt, wird der Feind Ressourcen finden, um das auszugleichen." Der Krieg werde deshalb nur enden, wenn "die ukrainischen Streitkräfte vollständig besiegt sind sind".(Quelle)

¹) Nicht beschreibend gemeint, sondern Bezeichnung einer Verwaltungseinheit wie z.B. "Markt" statt "Gemeinde" in mehreren Bundesländern.
²) Ich bin nicht sicher, was er meint; vielleicht Pokrowsk?

Luftkrieg:

Die ukrainische Armee hat erstmals mit Drohnen den Kriegshafen Kaspijsk am Kaspischen Meer (rund 1.000 km entfernt) angegriffen. Videoaufnehmen zeigen, dass mindestens eine Drohne ein russisches Kriegsschiff trifft, wahrscheinlich eine Korvette der Tarantul-Klasse. Allerdings könnte es sich um ein bereits außer Dienst gestelltes Schiff handeln. (Quelle)

Mögliches Kriegsverbrechen:

Ein russischer Luftangriff auf ein Krankenhaus in Saporischschja hat zehn Zivilisten das Leben gekostet und 40 Menschen verletzt. (Quelle)

Kriegsverbrechen:

Ein russisches Gericht hat erstmals zwei russische Soldaten wegen eines Kriegsverbrechens bestraft. Die beiden Männer hatten in Wolnowacha im besetzten Donbass eine neunköpfige Familie ermordet, mutmaßlich als diese sich weigerte, ihr Haus aufzugeben. Dafür erhielten sie lebenslange Freiheitsstrafen. (Quelle) Es ist freilich zu betonen, dass es sich nach russischer Lesart um eine auf russischem Gebiet begangene Straftat handelt, die demnach nicht unter die Straffreiheit für im Zusammenhang mit der "militärischen Spezialoperation" begangenen Straftaten fällt.
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(09.11.2024, 05:06)muck schrieb: Russland aufgrund der Machtbefugnisse der Behörden". Die Behörden würden sich nämlich fürchten, "die Situation während der Mobilisierung nicht aufrechterhalten zu können".

Ein Stratege ist Girkin nicht gerade. Meines Erachtens steht eine russische Mobilisierung überhaupt nicht auf der Agenda weil sie aus russischer Sicht strategisch völlig falsch wäre. Ein bis zwei Millionen Soldaten mehr würden Rußland aktuell überhaupt nichts nutzen, weil die Kapazitäten der Rüstungsindustrie endlich sind. Hinzu kommt dass der schleichende demographische Wandel durch verstärkte Verluste bestimmter Minderheiten von Seiten der russ. Regierung sicher schon eingepreist bzw. von dieser sogar wohlwollend betrachtet wird. Insofern wird man vermutlich versuchen den Krieg mit der bisherigen Intensität noch Jahre weiter zu führen bis man irgendwann am Dnipro steht.
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(09.11.2024, 10:53)lime schrieb: Ein Stratege ist Girkin nicht gerade.
Wie konnte er dann so viele überzeugen, dass man ihn einsperren musste?

Girkin ist Oberst des FSB (und wahrscheinlich auch Oberstleutnant des GRU), war federführend am russischen Angriff auf die Ukraine 2014 und an der militärischen Stabilisierung der "Volksrepubliken" Luhansk und Donetsk beteiligt. Den bisherigen Kriegsverlauf der Invasion seit 2022 hat er korrekt vorhergesagt, und er ist keineswegs der einzige in Russlands Armee- und Sicherheitsapparat, der eine Mobilisierung fordert.
(09.11.2024, 10:53)lime schrieb: Meines Erachtens steht eine russische Mobilisierung überhaupt nicht auf der Agenda weil sie aus russischer Sicht strategisch völlig falsch wäre. Ein bis zwei Millionen Soldaten mehr würden Rußland aktuell überhaupt nichts nutzen, weil die Kapazitäten der Rüstungsindustrie endlich sind.
Dieser Gedanke geht meines Erachtens völlig in die falsche Richtung.

Der Personalmangel ist bereits erheblich.

Man nimmt Wehrpflichtige in den Schwitzkasten, damit sie sich verpflichten;
man schickt Kriminelle und den sozialen Bodensatz als Z-Sturm an die Front;
man holt sich Söldner aus Afrika und Truppen aus Nordkorea (!);
Matrosen untergegangener Schiffe und Luftwaffen-Bodenpersonal werden in die Schlacht geworfen;
und es gibt die Mobilisierten aus dem Herbst 2022, die völlig demoralisiert sind und nur noch heim wollen.

Und da soll es kein Bedürfnis zur Mobilisierung geben?

Schon um die eigenen Kräfte aufzufrischen, müsste man zum Mittel der Zwangsverpflichtung greifen, wenn der Personalersatz auf freiwilliger Basis nicht zu bewerkstelligen ist. Die militärische Notwendigkeit scheint mir offenkundig.

Es sprechen auch auf politischer Ebene mehrere Argumente dafür: ausbleibende militärische Erfolge, derentwegen man Tatkraft signalisieren müsste; die Rhetorik des Regimes, wonach man sich in einem Überlebenskampf gegen die ganze NATO befindet (aber trotzdem nicht alle Kräfte aufwendet?); und die Kursk-Invasion. Der KPRF-Vorsitzende Gennadi Sjuganow hat Putin schon im August vorgeworfen, er breche seinen Amtseid, wenn er nicht endlich den Krieg erklärt und mobilisiert, obwohl wieder "Nazis" vor Kursk stünden.

Es gibt nur einen, aber entscheidenden Grund dafür, es nicht zu tun. Mobilisieren hieße, die Hosen runterzulassen und den russischen Gesellschaftsvertrag aufzukündigen, der da sagt: Sicherheit und Wohlstand gegen Gehorsam. Es wäre der ultimative Offenbarungseid. Aus den "drei Tagen bis Kiew" sind "drei Jahre bis Charkiw" geworden. Wenn man der Wirtschaft noch mehr Arbeitskräfte entzieht, geht sie erst recht den Bachgraben runter.

Ich kann nicht erkennen, dass die von Dir behaupteten Folgen im Falle der Mobilisierung eintreten würden. Die würden sich nicht gegenseitig auf die Füße treten, und der Materialmangel (v.a. geschützte Transportkapazität) wäre auch nicht schlimmer als jetzt. Doch würde Russland mobilisieren und so eine Personalreserve schaffen, um über einen sorgfältig gestreckten Zeitraum hinweg peu à peu ausgelaugte durch frische Kräfte zu ersetzen, sie könnten diesen Krieg gewinnen.
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Strelkov hatte das schon mal in einem längeren Beitrag einige Monate vor seiner Verhaftung ausgeführt, dass eine Moblisierung nicht dazu dienen würde, die Zahl der Soldaten an der Front massiv zu erhöhen, sondern: eine häufigere Rotation zu ermöglichen und damit Einheiten Zeit zum Ruhen und Auffrischen zu geben; Ausbilder zu erhalten indem man erfahrene Veteranen aus der Front für Ausbildungszwecke herausziehen kann; die Moral der Soldaten zu erhöhen in dem der Verbleib an der Front verkürzt werden kann; die erheblichen Verluste auszugleichen weil viele Einheiten nur noch auf dem Papier bestehen und in Wahrheit weit unter ihre Sollstärke abgesunken sind; durch frische ausgeruhte Soldaten die an der Grenze des Machbaren belasteten Ukrainer zu überfordern - vor allem durch eine Erhöhung der Kadenz und der Intensität der Angriffe und fortwährende Simultantiät dieser; und mit einem Teil der Mobilisierten neue Fronten an anderer Stelle zu eröffnen, wo die Ukrainer keine ausreichenden Sicherungskräfte stehen haben;

Die Idee ist also nicht, die Front mit Millionen Soldaten zu fluten, sondern die teilweise völlig fertigen russischen Einheiten dort überhaupt wieder einsatzbereit zu kriegen und den katastrophalen aktuellen Zustand zu überwinden, in welchem selbst schwerer Verwundete nicht mehr evakuiert werden und Einheiten bis zu ihrer vollständigen Vernichtung an der Front verbleiben.

Strelkov beklagte vor allem dabei den Ausbildermangel und dass immer mehr Fähigkeiten ausbluten und verloren gehen, weil man wertvolle Spezialisten für ganz normale infanteristische Aufgaben verwendet. Die Mobilisierten würden es demgegenüber ermöglichen, die Spezialisten zu schonen und zurück zu halten, statt sie in den Gräben zu verschwenden.

Es ist schade, dass er nicht mehr wie früher längere gefilmte Interviews und Gespräche mehr geben kann.

Spaßige Randnotiz: er hat sich ja aus der Haft freiwillig an die Front gemeldet. Aber mit der Begründung dass er körperlich dafür untauglich ist, wird ihm aktuell diese Bewährung an der Front verweigert.

Er dürfte der einzige Russe sein, der ernsthaft selbst seit Monaten freiwillig an die Front will, und dem dies fortwährend verwehrt wird. Er wollte sogar schon mit falschem Pass an die Front, aber auch das endete dann nur in seiner Verhaftung und Ausweisung aus dem Gebiet der militärischen Sonderoperation.

Mal sehen wann Putin ihm einen Tee zubereiten lässt.
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(09.11.2024, 22:45)muck schrieb: Wie konnte er dann so viele überzeugen, dass man ihn einsperren musste?

Girkin kommt mir wie der notorische Querulant vor den es in nahezu jedem Verein gibt, der überall dabei sein will aber eigentlich will ihn keiner dabei haben.

Zitat:Girkin ist Oberst des FSB (und wahrscheinlich auch Oberstleutnant des GRU), war federführend am russischen Angriff auf die Ukraine 2014 und an der militärischen Stabilisierung der "Volksrepubliken" Luhansk und Donetsk beteiligt. Den bisherigen Kriegsverlauf der Invasion seit 2022 hat er korrekt vorhergesagt, und er ist keineswegs der einzige in Russlands Armee- und Sicherheitsapparat, der eine Mobilisierung fordert.Dieser Gedanke geht meines Erachtens völlig in die falsche Richtung.

Girkins Strategie dreht sich nur um einen möglichst schnellen Sieg in der Ukraine, egal mit welchen Mitteln. Die Strategie Putins ist wesentlich längerfristiger angelegt. Er will die komplette Abkehr vom Westen und ein Ende des westlichen Einflusses auf die russische Gesellschaft. Um dies zu erreichen kann sich der Krieg aus Sicht der russ. Regierung ruhig in die Länge ziehen.

Zitat:Der Personalmangel ist bereits erheblich.

Man nimmt Wehrpflichtige in den Schwitzkasten, damit sie sich verpflichten;
man schickt Kriminelle und den sozialen Bodensatz als Z-Sturm an die Front;
man holt sich Söldner aus Afrika und Truppen aus Nordkorea (!);
Matrosen untergegangener Schiffe und Luftwaffen-Bodenpersonal werden in die Schlacht geworfen;
und es gibt die Mobilisierten aus dem Herbst 2022, die völlig demoralisiert sind und nur noch heim wollen.

Nein, die Personaldecke reicht um den Krieg mit der aktuellen Intensität weiter zu führen.
Dein Fehler ist dass Du die westliche Sichtweise auf die russ. Gesellschaft überträgst. Kriminelle an die Front zu schicken und so auch noch die Gefängnisse zu leeren bzw. zu entlasten ist aus russ. Sicht eine doppelte Problemlösung während es aus westlicher Sicht ein NoGo ist.
Nur weil man Söldner aus Nordkorea und Afrika holt heißt dass nicht zwangsläufig dass man zwingend auf sie angewiesen ist. Man nimmt diese Möglichkeiten halt mit. Wäre ja auch dumm darauf zu verzichten.
Dass man spezialisiertes Personal an der Front verheizt mag es in einer bestimmten Phase des Krieges durchaus gegeben haben, meines Erachtens ist das aber kein Standardvorgehen.
Wo und wann wollen Soldaten von der Front nicht einfach nur heim wenn sie die Wahl hätten?

Zitat:Und da soll es kein Bedürfnis zur Mobilisierung geben?

Schon um die eigenen Kräfte aufzufrischen, müsste man zum Mittel der Zwangsverpflichtung greifen, wenn der Personalersatz auf freiwilliger Basis nicht zu bewerkstelligen ist. Die militärische Notwendigkeit scheint mir offenkundig.

Aus west. Sicht ja aber aus russ. Sicht eben nicht zwangläufig. Außerdem schafft es Rußland auf freiwilliger Basis aktuell nicht nur den Ersatz sondern den Aufwuchs zu gewährleisten, wenn auch in relativ kleinen Schritten. Es gibt immer noch genug die sich mit den angebotenen Geldern locken lassen.

Zitat:Es sprechen auch auf politischer Ebene mehrere Argumente dafür: ausbleibende militärische Erfolge, derentwegen man Tatkraft signalisieren müsste; die Rhetorik des Regimes, wonach man sich in einem Überlebenskampf gegen die ganze NATO befindet (aber trotzdem nicht alle Kräfte aufwendet?); und die Kursk-Invasion. Der KPRF-Vorsitzende Gennadi Sjuganow hat Putin schon im August vorgeworfen, er breche seinen Amtseid, wenn er nicht endlich den Krieg erklärt und mobilisiert, obwohl wieder "Nazis" vor Kursk stünden.

Die militärischen Erfolge sind da, wenn es auch eher ein Rinnsal ist als ein reißender Fluß. Gerade in den letzten Wochen sind sie stetig zu verzeichnen. Wenn Rußland 2030 am Dnipro steht hat es nebenbei noch die gesellschaftliche Umformung erreicht die die russische Regierung anpeilt. Das ist inzwischen deren Strategie und nicht ein schneller Sieg. Aber im Westen will man nicht erkennen dass der Plan derweil wesentlich weiter gefasst wurde, als noch zu Anfang des Krieges. Man nutzt jetzt den Krieg und will ihn gar nicht mehr schnell beenden.
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(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: 1.) ..... Die Strategie Putins ist wesentlich längerfristiger angelegt. Er will die komplette Abkehr vom Westen und ein Ende des westlichen Einflusses auf die russische Gesellschaft. Um dies zu erreichen kann sich der Krieg aus Sicht der russ. Regierung ruhig in die Länge ziehen.

2.) ..... Dein Fehler ist dass Du die westliche Sichtweise auf die russ. Gesellschaft überträgst.

3.) ..... Wenn Rußland 2030 am Dnipro steht hat es nebenbei noch die gesellschaftliche Umformung erreicht die die russische Regierung anpeilt. Das ist inzwischen deren Strategie und nicht ein schneller Sieg. Aber im Westen will man nicht erkennen dass der Plan derweil wesentlich weiter gefasst wurde, als noch zu Anfang des Krieges. Man nutzt jetzt den Krieg und will ihn gar nicht mehr schnell beenden.

Diese drei Punkte beschreiben die russische Strategie klar und einfach. Sie sind, was sie sind: das, was geschieht und worauf hingearbeitet wird. Der Großteil der jetzt zu lesenden Bewertungen, Analysen und Einschätzungen liegt jedoch hinter dieser Klarheit zurück. Diese versäumen es schlichtweg, die durchaus identifizierte oder doch zumindest geargwöhnte Strategie konsequent im Auge zu behalten. Sie verliert in den darauffolgenden Bewertungen und Analysen aus irgendeinem Grund an Präsenz und Bedeutung. Ich vermute, daß der westliche Propagandadruck dem östlichen nicht mehr hinterher steht ...
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Zitat:«Solange die Ukrainer kämpfen, können sie nicht verlieren», sagt Deutschlands berühmtester Clausewitz-Experte
ich frage mich
a) ob die rationale Sicht von Clausewitz auf "Überzeugungskriege" wie den zwischen Russland und der Ukraine anwendbar ist, oder die Irrationalität der einem Angriff zugrunde liegenden Überzeugung die Clausewitz'sche Rationalität von vorne herein ausschließt,
und
b) wie lange der Kampfwille der Ukraine noch aufrecht erhalten wird, wenn der stärkste Verbündete durch einen Regierungswechsel und die damit verbundene Änderung der politischen Haltung als Unterstützer ausscheidet
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Clausewitz sagt keinen Kriegsausgang voraus.
Clausewitz hat sich seinen Namen in der Kriegstheorie gemacht, so wie Sun-Tzu vor ihm oder Delbrück nach ihm.

«Solange die Ukrainer kämpfen, können sie nicht verlieren» ist eine noch plattere Variante von «Wer kämpft kann verlieren. Wer nicht kämpft hat schon verloren.». Ein kindischer Kalenderspruch, bestenfalls eine Beschwörungsformel.

Nichts für ungut, lieber Erich. Mir geht es nur um die Substanzlosigkeit vermeintlicher (berühmter?!) Experten, die gerade diesen Konflikt mit ihren Beiträgen ... nun ja, düngen.
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lime:

Zitat:Die militärischen Erfolge sind da, wenn es auch eher ein Rinnsal ist als ein reißender Fluß. Gerade in den letzten Wochen sind sie stetig zu verzeichnen.

Das Verlustverhältnis ist weiter derart zu Ungunsten Russlands, dass die aktuellen Operationen weiterhin kein militärischer Erfolg der Russen sind. In keinster Weise und in keiner möglichen Interpretation. Die Russen hoffen lediglich darauf, mittelfristig den Westen überrüsten zu können, und dass irgendwann dem Gegner die Luft ausgeht, verausgaben sich dabei aktuell weiterhin in einer nicht auf Dauer tragbaren Weise.

Zitat:Die Strategie Putins ist wesentlich längerfristiger angelegt. Er will die komplette Abkehr vom Westen und ein Ende des westlichen Einflusses auf die russische Gesellschaft. Um dies zu erreichen kann sich der Krieg aus Sicht der russ. Regierung ruhig in die Länge ziehen.

Ja, durchaus ist dies ein Teil der Zielsetzung. Aber: nur weil man eine strategische Zielsetzung hat bedeutet dies nicht, dass diese funktionieren wird, sich auszahlt, gut ausgeht usw. Darüber hinaus ist es ebenso ein Teil der Zielsetzung den Krieg weiter laufen zu lassen weil man sich noch extremer daran persönlich berreichern kann und die Wirtschaft aktuell schon viel zu abhängig vom Krieg ist und bei einem Frieden erhebliche Verwerfungen auftreten würden usw.

Aber ja, dass aktuelle russische Ziel ist es den Krieg in die Länge zu ziehen. Nicht zuletzt auch aus rein militärisch-strategischer Notwendigkeit, weil der Westen irgendwann die Lust daran verlieren wird - so die Annahme der Russen. Die russische Strategie zielt daher keineswegs nur auf diese politisch-strategische Ebene welche du hier nennst, sondern durchaus auf den militärischen Sieg über die Ukraine. Der Westen versucht sich im Froschkochen, die Russen darin, dies so lange durchzuhalten bis der Westen dies enerviert aufgibt.

Und das ist tatsächlich auch einer der primären Gründe warum man nicht Mobil macht, warum man nicht alles in den Krieg wirft usw. weil man damit weitergehende westliche Waffenlieferungen provozieren würde. Man will dieses Risiko gar nicht eingehen und die westliche Hilfe soll langsam einschlafen. Deshalb eskaliert Russland nicht so wie es dies könnte und will den Krieg weder abkürzen noch schnell zum Sieg führen. Man will auf gar keinen Fall dass der Westen mehr tut, sondern dass die westliche Hilfe nachlässt.

Die Sache ist viel knapper und viel mehr auf Rand genäht als man dies so wahrnimmt. Zu viel westliche Hilfe und Russland verliert. Eine Eskalation des Krieges mit Mobilmachung usw. wie dies Strelkov vorschwebt könnte also dazu führen, dass Russland verliert, während es wenn es gerade eben nicht mobil macht noch gewinnen kann. Eskaliert Russland zum totalen Krieg unter Einspannung aller Mittel zum äußersten, reicht dies für die Gegenreaktion des Westens trotzdem nicht, dafür ist Russland einfach zu schwach. Umgekehrt könnte man, wenn man nur geschickt genug agiert, mittelfristig siegen, gerade eben indem man die Eskalation vermeidet und nicht alles rein wirft. Ob dies aufgehen wird kann ich nicht sagen, aber es ist aktuell sogar die einzige Chance für Russland.

Strelkov hat daher in diesem Aspekt auch meiner Ansicht nach nicht recht, bzw. wäre seine Strategie falsch, weil die Reaktion darauf für Russland viel problematischer ist als der Status Quo.

Zitat:Wenn Rußland 2030 am Dnipro steht hat es nebenbei noch die gesellschaftliche Umformung erreicht die die russische Regierung anpeilt. Das ist inzwischen deren Strategie und nicht ein schneller Sieg. Aber im Westen will man nicht erkennen dass der Plan derweil wesentlich weiter gefasst wurde, als noch zu Anfang des Krieges.

Russland kann den Krieg auch auf dem aktuellen Niveau in keinster Weise bis 2030 führen. Das ist nicht möglich. Desweiteren ist die gesellschaftliche Umformung nicht so stark vom Krieg abhängig wie du das hier annimmst, die ginge auch ohne. Du überhöhst hier meiner Ansicht nach solche politischen Zielsetzungen und lässt einfach außer Acht, dass die russische Führung hier sich schlussendlich in eine extrem schlechte Position manövriert hat, in welcher sie allenfalls mit großem Geschick noch einen positiven Ausgang erzielen kann.

Es gibt meiner Ansicht nach diese Meisterpläne nicht, sondern das primäre Ziel ist weiterhin der Sieg in der Ukraine als primäres Ziel. Alles andere wird allenfalls dazu konstruiert, sowohl im Westen als auch in Russland selbst. Ein schneller Sieg ist nicht möglich, eine Eskalation hin zum totalen Krieg führt zu Gegenreaktionen welche Russland den Sieg kosten würden, entsprechend ist es durchaus der Plan, den Krieg in die Länge zu ziehen um mittelfristig zu siegen, dafür muss der Krieg aber genau auf der richtigen Stufe vor sich hin köcheln, nicht zu viel und nicht zu wenig. Zu lange darf es andererseits aber nicht dauern, dafür reichen die Kräfte nicht.

Entsprechend setzt Russland aktuell alles auf einen mittelfristigen Sieg im Laufe der nächsten zwei bis drei Jahre. Das kann sogar aufgehen, aber of es aufgeht hängt allein von uns ab. Dieser Krieg wird schlussendlich rein vom Westen - und einigen anderen Staaten - entschieden, Russen wie Ukrainer sind beide darin nur noch fremdbestimmt.
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@lime
Zitat:Die militärischen Erfolge sind da, wenn es auch eher ein Rinnsal ist als ein reißender Fluß. Gerade in den letzten Wochen sind sie stetig zu verzeichnen.
Ja, wenn die Russen so weitersiegen, dann besiegen sie den Westen - zwar nicht deswegen, weil ihr BIP bei zwei Billionen Euro liegt und das der NATO bei rund 42 Billionen Euro, sondern weil das atemberaubend schnelle Vorrücken der russischen Truppen dazu führt, dass die Strategen und Politiker im Westen irgendwann schnarchend vom Stuhl fallen. Und Meldungen nach dem (im übertragenen Sinne) Schema Nach tagelangen schweren Kämpfen und unter massivem Einsatz von Panzern und Artillerie gelang eine strategische Durchbruchsoperation auf 199 Metern Tiefe. Dabei wurden die 103-Einwohner-Städte Keinerkenntsgrad und Istdochwurschtkow in schneidigem Angriff genommen! sorgen allenfalls noch für genervtes Augenrollen.

Mal ernsthaft: Die Ukrainer haben derzeit relativ wenig Unterstützung erhalten - und sehen übrigens aktuell dem Winter mit einigen Sorgen entgegen, da die Energieinfrastruktur immer noch arg wackelig ist -, und in der EU und in den USA teils auch, ist eine gewisse Kriegsmüdigkeit zu beobachten. Das hat nun weniger mit einem "richtigen Krieg" zu tun, sondern schlichtweg ist es ein wachsendes Desinteresse an diesem Konflikt, das sich noch ein wenig paart mit fiskalischem Egoismus, nationalistischen Alleingängen und teils auch mancher prorussischer Haltung. Von militärischen Erfolgen kann man aber deswegen kaum sprechen, zumindest auch nicht, wenn man die horrenden Ausfälle dagegen stellt. Heißt aber natürlich nicht, dass die Ukrainer derzeit entspannter sein können...

Schneemann
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Die Russen setzen bei Antonivka wieder SU 25 direkt über der Front . So lautet eine Meldung von Rob Lee auf X
So nahe an der Front waren russische Flugzeuge wohl schon seit Monaten nicht mehr zu sehen
https://x.com/RALee85/status/1854549751598923935

Ein Bericht über die Ausbildung der EU am Beispiel Polen
https://www.defenseone.com/threats/2024/...ps/400895/

Bilder russischer Drohnen wo man versucht hat die radarsignatur zu verändern
https://x.com/RALee85/status/1855357635379495276
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muck:

Zitat:Ja, wenn die Russen so weitersiegen, dann besiegen sie den Westen - zwar nicht deswegen, weil ihr BIP bei zwei Billionen Euro liegt und das der NATO bei rund 42 Billionen Euro, sondern weil das atemberaubend schnelle Vorrücken der russischen Truppen dazu führt, dass die Strategen und Politiker im Westen irgendwann schnarchend vom Stuhl fallen.

Ironischerweise ist exakt dass die russische Zielsetzung und auch die aktuelle russische Strategie. Mit der man zwar nicht den Westen, aber die Ukraine durchaus mittelfristig real besiegen wird. Die Wette der Russen ist dabei, dass sie einfach zäher und verbissener sind als die Ukrainer, und diese dem Westen immer gleichgültiger werden und niemand das Geschehen dort mehr ernst nimmt.

Und das russische Ziel ist es ja zu keinem Zeitpunkt gewesen gegen den Westen anzutreten. Ganz im Gegenteil war man geschockt von der westlichen Reaktion die man so nicht erwartet hatte. Das Ziel war und ist die Ukraine und nichts anderes.
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(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Girkin kommt mir wie der notorische Querulant vor den es in nahezu jedem Verein gibt, der überall dabei sein will aber eigentlich will ihn keiner dabei haben.
Girkin ist der Darling des "Clubs der Patrioten". Ihn als Außenseiter darzustellen geht schlicht an der Realität vorbei. Falls Du Zugriff auf russische soziale Medien hast, such' einfach mal, wie oft sich Inhalte um Girkin drehen.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Girkins Strategie dreht sich nur um einen möglichst schnellen Sieg in der Ukraine, egal mit welchen Mitteln.
Stimmt. Und er ignoriert die politischen Implikationen, bzw. hält sie für beherrschbar.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Die Strategie Putins ist wesentlich längerfristiger angelegt. Er will die komplette Abkehr vom Westen und ein Ende des westlichen Einflusses auf die russische Gesellschaft. Um dies zu erreichen kann sich der Krieg aus Sicht der russ. Regierung ruhig in die Länge ziehen.
Was Du hier betreibst, ist 4D-Schach-Theoretisieren.

Putin hat diesen Krieg nicht mit einer Grand Strategy begonnen. Er hat diesen Krieg im Vertrauen auf Patruschews Geheimdienstinformationen begonnen, die ihm versichert haben, dass die Mehrheit der Ukrainer die russischen Invasionstruppen als Befreier begrüßen und die ganze Sache binnen weniger Tage abgetan wäre.

Er hat sich ins Watt begeben, ist eingesunken und strampelt nun umso mehr, desto höher die Flut steigt.

Mehr ist da nicht.

Ja, Putin will die Entflechtung Russlands vom Westen, er will eine neue multipolare Weltordnung, das ist richtig; aber wie @Quintus Fabius weiter unten richtig zu bedenken gibt, der Krieg ist dazu nicht erforderlich. Dies wäre zu wesentlich geringeren Kosten möglich, und vor allem, ohne Russland zu einem bloßen Satelliten Chinas zu machen.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Nein, die Personaldecke reicht um den Krieg mit der aktuellen Intensität weiter zu führen.
Der Sturm auf Pokrowsk musste gestoppt werden, im Sektor Charkiw geht gerade der Stepping Stone Woltschansk verloren, und Kursk ist aktuell ein Nullsummenspiel.

Und Du bist also der Ansicht, dass dies dem russischen Willen entspricht und nicht auf Personalmangel hindeutet? Mutige These. Auf strategischer und operativer Ebene ist Russland nicht zur Initiative fähig. Die Vorstellung, dass Putin gar nicht Initiative zeigen will, ist wieder bloß Glaube an 4D-Schach.

Ockhams Rasiermesser besagt: Von allen denkbaren Erklärung ist wahrscheinlich diejenige zutreffend, die mit der geringsten Anzahl an unbeweisbaren Annahmen auskommt. Und Hanlons Rasiermesser besagt: Glaube niemals an Vorsatz, wenn Inkompetenz als Erklärung ausreicht.

Girkins Hypothese besteht den Test, Deine nicht.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Dein Fehler ist dass Du die westliche Sichtweise auf die russ. Gesellschaft überträgst. Kriminelle an die Front zu schicken und so auch noch die Gefängnisse zu leeren bzw. zu entlasten ist aus russ. Sicht eine doppelte Problemlösung während es aus westlicher Sicht ein NoGo ist.
Nein, das tue ich nicht. Du ignorierst schon einmal, dass ich eine dediziert russische Sichtweise wiedergegeben habe, wenngleich die der Nationalisten.

Übrigens habe ich mehrfach in diesem Faden selbst anhand russischer Quellen auf das soziale Ungleichgewicht beim Schultern der Kriegsfolgen hingewiesen, und darauf, dass die russische Elite diesem Ungleichgewicht viel abgewinnen kann. Aber es ist schon überaus abenteuerlich, aus einem angenehmen "Nebeneffekt" eine Handlungsmaxime ableiten zu wollen. Zumal in einer Zeit, wenn 7% des russischen Wirtschaftsvolumens bereits für Prämienzahlungen an Leute draufgehen, die man angeblich nur schnellstmöglich verheizen will.

Russland trägt seine Angriffe nicht etwa deshalb nur auf Kompanieebene und mit Tagelöhnern aus Dagestan vor, weil es gar nicht auf Verbandsebene mit Kräften mit höherem Einsatzwert angreifen wollte. Was die Russen wollen, kann man weiter oben von Alexander Borodai hören: Die "Deplorables" sitzen in den russischen Gräben und dienen dazu, dass die Ukrainer sich an ihnen verausgaben. Dann führt man mit frischen Kräften höherer Qualität den Gegenstoß und wirft die Ukrainer.

In Pokrowsk hat man genau das versucht und dort einige besten russischen Verbände konzentriert. Und im September hat man erkannt, dass es nicht klappt, und ist deswegen nordwärts und südwärts ausgewichen, v.a. auf das weniger gut verteidigte Wuhledar. Um es ganz klar zu sagen: Die Russen versuchen durchaus, jenseits der bloßen taktischen Ebene entscheidende Erfolge zu erringen, und beschränken sich nicht darauf, Kanonenfutter zu verbrennen. Es fehlen ihnen aber ganz einfach die Mittel.

Es fehlt ihnen das Personal, und es fehlt ihnen der geschützte Transportraum.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Nur weil man Söldner aus Nordkorea und Afrika holt heißt dass nicht zwangsläufig dass man zwingend auf sie angewiesen ist. Man nimmt diese Möglichkeiten halt mit. Wäre ja auch dumm darauf zu verzichten.
Ja nee, is' klar. Warum billig, wenn es auch teuer geht? Warum eigene Stärke beweisen, wenn man sich auf der internationalen Bühne blamieren kann?
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Dass man spezialisiertes Personal an der Front verheizt mag es in einer bestimmten Phase des Krieges durchaus gegeben haben, meines Erachtens ist das aber kein Standardvorgehen.
Diese "Phase" dauert bereits ein halbes Jahr.

Ganz abgesehen davon, dass die Berichte der Z-Blogger voll von Hinweisen darauf sind, dass Kampf- und Einsatzunterstützer wie Artilleristen, Nachschieber und sogar Sanitäter immer wieder mal als Infanteristen verheizt werden, kämpfen aktuell im Raum Kursk ganz offiziell das 1. Regiment der Strategischen Raketentruppen (Quelle) und das 1. Schützenregiment der Luftstreitkräfte (Quelle) als infanteristische Verbände.

In Sektor Pokrowsk hingegen wird das Selbständige Bataillon "Fregat" eingesetzt, das aus Matrosen des Flugzeugträgers Admiral Kusnezow besteht. (Quelle)
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Wo und wann wollen Soldaten von der Front nicht einfach nur heim wenn sie die Wahl hätten?
Die Mobilisierten von 2022 sitzen seit zwei Jahren in der Ukraine und verbreiten täglich zu dutzenden ihre Erfahrungsberichte, ich zitiere mich mal selbst:
Zitat:Der Z-Blogger 'Vault8', seit nun fast zwei Jahren in der Ukraine, schreibt: "Die psychologische Marke von zwei Jahren ist bald erreicht. Und die Jungs stecken mitten in einer akuten Krise", weil sie "jedes Interesse am Krieg verloren haben". Es herrsche "Müdigkeit, wegen der Aneinanderreihung großer Ungerechtigkeiten". Es sei "schwer, sich selbst zu erklären, was man im Krieg tun soll, wenn man zwei Jahre lang viele Freunde verloren hat, viel Scheiße gesehen hat, und sich kaum jemand für dich interessiert". Auch die Familien würden unruhig, die Ehefrauen der Männer könnten so nicht leben. Selbst die Kontraktniki dächten so, die Verträge auf sechs Monate geschlossen hätten und dann einfach vergessen worden seien. Er schließt, dass "das soziale Experiment, das feudale Prinzip des Wehrersatzes durch einmalige Rekrutierung" sicherzustellen, "schreckliche Kosten" verursache. "In erster Linie ist das Ergebnis des Experiments die massenhafte Erkenntnis, dass es Bullshit ist." (Quelle)
Aber vermutlich wirst Du jetzt einen Grund dafür finden, warum der Eintrag solcher Meinungen in die russische Gesellschaft gar keine Hypothek darstellt, die sich aufzuladen der Kreml unbedingt vermeiden müsste …
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Außerdem schafft es Rußland auf freiwilliger Basis aktuell nicht nur den Ersatz sondern den Aufwuchs zu gewährleisten, wenn auch in relativ kleinen Schritten. Es gibt immer noch genug die sich mit den angebotenen Geldern locken lassen.
Du ignorierst beharrlich alle Anzeichen, die dagegen sprechen, was im Übrigen Girkins Hauptargument und der Grund dafür ist, dass er die Mobilisierung fordert.

Allein schon die Tatsache, dass der Verpflichtungsbonus im landesweiten Durchschnitt in den vergangenen achtzehn Monaten von ₽220.000 auf ₽3 Mio. angehoben wurde, ist ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass sich immer weniger Männer für Geld anwerben lassen, sonst müsste man nicht mit immer mehr Geld locken.
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Aber im Westen will man nicht erkennen dass der Plan derweil wesentlich weiter gefasst wurde, als noch zu Anfang des Krieges.
Offenbar wollen auch Girkin, der "Club der Patrioten", die Z-Blogger und die halbe russische Armee das nicht erkennen?
(10.11.2024, 11:00)lime schrieb: Man nutzt jetzt den Krieg und will ihn gar nicht mehr schnell beenden.
Wieder dieser unbedingte Glaube an 4D-Schach.
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muck:

Zitat:Es fehlt ihnen das Personal, und es fehlt ihnen der geschützte Transportraum.

Das würde ich selbst noch als weniger relevant ansehen. Den Russen fehlt vor allem anderen die Luftherrschaft, die Befähigung das Konterartillerieduell zu gewinnen und die Präzision bei ihrer Artillerie sowie die Möglichkeit präzise in großem Umfang tief in die Ukraine hinein zu wirken.

Desweiteren hinken sie bei den Drohnen hinterher und ihre EloKa hat sich (das war für mich die größte Überraschung) als unzureichend erwiesen.

Aber noch vor all diesen Aspekten fehlt ihnen die militärische handwerkliche Kompetenz, insbesondere auf der operativen Ebene, was für mich ebenfalls sehr überraschend war, war doch die russische Armee früher eine, welche sich gerade eben auf die operative Ebene regelrecht spezialisiert hatte.

Allgemein:

Die russischen Streitkräfte sind schlussendlich von ihrer menschlichen Befähigung her degeneriert. Die teilweise bizarre Inkompetenz russischer Offiziere bringt ja in Russland zunehmend nicht nur die Z-Blogger und Ultranationalisten zum schäumen, die russische Gesellschaft insgesamt beginnt allmählich zu murren diesbezüglich. Russen sind extrem schwer in Gang zu bringen, aber keine russische Regierung überlebt es (wortwörtlich!), sollte es dazu kommen. Entsprechend steht die russische Regierung unter immensen Druck aus dem Krieg in der Ukraine irgendwie einen Sieg konstruieren zu können. Alles andere würde ihr nacktes Überleben in Frage stellen.

Und gerade eben deshalb strampelt man sich dermaßen in der Ukraine ab. Da gibt es keine elaborierten Pläne im Hintergrund, irgendwelche verdeckten Zielsetzungen, man hat sich selbst in eine untragbare Situation manövriert und steckt in einer Zwickmühle fest, dass Bild mit dem Watt ist da gar nicht so schlecht.

Hinter allem steckt da der tiefenpsychologisch ganz tief im Hintergrund verankerte Glaube, dass der Zar von Gott gesandt wurde, und damit sein Wille derjenige Gottes sei. Das trifft selbst für die Russen zu, welche Nihilisten sind. Entsprechend kann es sich kein Zar leisten, wenn das Volk den Eindruck gewinnt, er handle gegen den Willen Gottes bzw. dieser habe ihm das Mandat des Himmels entzogen. Das würde auch ein Putin nicht überleben, wortwörtlich.

Deshalb wird man alles versuchen, den Sieg in der Ukraine zu erzwingen. Koste es was es wolle.
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Meiner Einschätzung nach bleibt die Umsetzung der sehr wohl vorhandenen russischen Strategie schlichtweg hinter den ursprünglichen Planungen zurück. Was wir beobachten, ist nicht das Ergebnis gezielter Vorbereitung, sondern einfach das, was nach dem Herausfiltern zahlreicher Fehlentscheidungen und unzureichender Umsetzungen übrig geblieben ist. Salopp gesagt: Die Ukraine hat Gegner, die den eigenen Plänen nicht folgen können.
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