Deutsche Kolonien
#46
@Helios
Zitat:Mir ist schleierhaft wie du zu dieser Beurteilung kommst, wo du doch die wesentlichen Faktoren, die allesamt eindeutig für einen Völkermord sprechen, selbst nennst? Die Intention von Berlin ändert weder etwas an der Dimension noch an der Bewertung.
Sehe ich ein wenig anders. Die Intention einer Regierung eines Landes ist meines Empfindens nach enorm gewichtig, ob ein Ereignis als Völkermord definiert werden kann (und muss) oder nicht. Ansonsten haben wir schlicht das Problem, dass die Grenzen derart verschwimmen, dass Abgrenzungen - in beiderlei Hinsicht (d. h. ob also ein Vorgang als solcher zu definieren ist oder eben nicht) - quasi nicht mehr möglich sind und damit eine gewisse Willkür um sich greift.

Ich bestreite die Taten in Deutsch-Südwest nicht, und ja, man kann sie auch als Genozid werten. Wenn sich die Bundesregierung dazu entschließt, diesen Schritt in Rahmen einer Aussöhnung mit der ehem. Kolonie zu gehen, dann soll es so sein und man soll es auch als Versuch ansehen, das Unrecht, das der Kolonialismus über andere Länder und Menschen gebracht hatte, als solches anzuerkennen bzw. dem Verdrängen entgegen zu wirken.

Psychologisch und moralisch gibt es hier sicher keinen Vorwurf oder einen Hebel, wo man Kritik ansetzen könnte. Politisch-rechtlich ist der Vorgang allerdings dennoch schwierig. Das Deutsche Reich an sich kann verantwortlich gemacht werden, da es sich seinerzeit entschlossen hatte, eine Kolonialmacht zu werden (auch wenn Bismarck nicht sonderlich begeistert war ob der "Platz an der Sonne"-Denke), damit trägt es quasi auch Verantwortung, was in seinen Kolonien geschieht, ob man nun einen Völkermord direkt "angewiesen" hat oder eben nicht.

Nur stellt sich dann die Frage, da ich faktisch jede Kolonialmacht für irgendetwas verantwortlich machen kann, was in einer Kolonie geschah, wo ich die Grenze zur Definition ziehe zwischen einem Genozid und "nur" einer Gräueltat. Wenn in Belgisch-Kongo im Rahmen einer äußerst grausamen Kolonialpolitik (Kautschuk-Gewinnung) über zehn, zwölf Jahre hinweg sich die Bevölkerung um mehrere Millionen reduziert (!), Schätzungen über Opfer schwanken irgendwo zwischen zwei und acht Millionen, was ist das dann? Ich könnte nun mit der Hungersnot in Bengalen 1942/43, dem Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika (der vermutl., infolge einer gezielt verursachten Hungersnot, bis zu 300.000 Opfer forderte, also ca. die 4-fache Anzahl der Opfer der Vorgänge in Deutsch-Südwestafrika; hier wird aber kein Genozid anerkannt), der französischen Kolonisierung Nordafrikas ab 1830 (vermutl. 500.000 bis 1 Mio. Opfer, was ca. 30% der Bevölkerung entsprach), dem Moro-Aufstand auf den Philippinen 1899-1902, wo US-Marines äußerst ruppig vorgingen (Dörferzerstörungen, Massenerschießungen, Misshandlungen), was ca. (offiziell) 200.000 Tote bedingte, weitermachen. (Und in diesen Fällen haben Regierungen teils offen die "harte Linie" nachweislich propagiert - im Gegensatz zu Namibia.) Man sieht also, dass das Drama Deutsch-Südwestafrika ein recht überschaubares ist. Und ich stelle dann ferner fest, ich finde kein Ende und weiß schlicht nicht mehr, wo der Genozid anfängt und wo nicht. Wo ziehe ich die Grenze? Ich kann es nicht sagen, gebe ich offen zu...

Des weiteren, und dies finde ich genauso irritierend, wird der Begriff "Völkermord" teils sehr inflationär genutzt. Ein Bsp. ist die Debatte um das Luf-Schiff, jenes Auslegerbootes, das Deutsche aus ihrer Kolonie Deutsch-Neuguinea nach Berlin verbracht hatten. Im SPIEGEL wurde dieses Thema vor einigen Wochen angesprochen und darauf hingewiesen, dass das Boot ja unrechtmäßig in deutschen Besitz gelangt sei (welche Kolonialmacht hat sich Dinge schon rechtmäßig angeeignet?). Das ist das eine - und hinsichtlich des Diebstahls von Kulturgütern sind wir uns sicher einig, dass man sie zurückzugeben hat -, das andere ist, dass im Magazin behauptet wurde, dass die Deutschen 1882 auf Luf (eine Insel, auf der man sich gerade mal umdrehen kann, im nördlichen Bismarck-Archipel) "ja ihren ersten Völkermord begangen hätten". Hintergrund: Es gab nach der Ermordung einiger Europäer dort eine Strafaktion zweier deutscher Kriegsschiffe. Aber: Man weiß nicht, wie viele Einwohner es auf der ca. 7 km² großen Insel überhaupt gab (Schätzungen schwanken zw. 200 und 500), weiß nicht, wie viele Personen von den deutschen Seesoldaten getötet wurden und kann nur sagen, dass es 20 Jahre später noch ca. 60 Einwohner gab. Sollte man da die Bezeichnung "Völkermord" nutzen? Das finde ich sehr gewagt und schlicht nicht angemessen. Aber vermutlich entspricht dies leider dem verklärenden Zeitgeist, genauso wie Denkmäler von ehem. Eroberern, Seefahrern oder Konquistadoren umgeworfen werden...

Schneemann.
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#47
Ich finde die ganze Sachlage wird viel zu einseitig betrachtet. Der Hereroaufstand richtete sich nicht primär gegen deutsche Soldaten sondern gegen Zivilisten, die von den Herero Kämpfern teils ermordet oder brutal gefoltert und verstümmelt wurden. Davon hört man offiziell aber wieder einmal gar nichts.
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#48
(30.05.2021, 14:29)Schneemann schrieb: Die Intention einer Regierung eines Landes ist meines Empfindens nach enorm gewichtig, ob ein Ereignis als Völkermord definiert werden kann (und muss) oder nicht. Ansonsten haben wir schlicht das Problem, dass die Grenzen derart verschwimmen, dass Abgrenzungen - in beiderlei Hinsicht (d. h. ob also ein Vorgang als solcher zu definieren ist oder eben nicht) - quasi nicht mehr möglich sind und damit eine gewisse Willkür um sich greift.

Das erschließt sich mir nicht, wieso sollte man Gefahr laufen, dass die "Grenzen verschwimmen", wenn man den Fokus weg von Absicht und Ausführung hin zur Tätersituation legt? Meines Erachtens ist es eher umgekehrt der Fall, denn ich sehe keinen Grund, dass überhaupt die Regierung eines Landes bei einem Völkermord involviert sein muss. Meines Erachtens kann ein Völkermord auch von staatlichen oder nichtstaatlichen Gruppierungen ausgehen, oder auch von Konzernen bis hin zu (theoretisch) Einzelpersonen.

Zitat:Politisch-rechtlich ist der Vorgang allerdings dennoch schwierig.

Darum geht es mir wie gesagt nicht, und als Privatperson bin ich in der angenehmen Situation, derlei bei meinen Betrachtungen nicht berücksichtigen zu müssen. Wink

Zitat:wo ich die Grenze zur Definition ziehe zwischen einem Genozid und "nur" einer Gräueltat.

Das ist sicherlich richtig, in der Diskussion hat sich ja auch ergeben, dass beispielsweise die UN-Definition zwangsläufig zu unbestimmt sein muss. Der Versuch, die fließende Natur unserer Welt in ein Korsett aus klar definierten Grenzen zu stecken scheitert im Detail immer wieder, dafür funktionieren die Zuordnungen im Großen und Ganzen erstaunlich gut, schlicht weil es in den meisten Fällen nicht um Details geht. Natürlich setzt das ein angemessenes Interpretationsvermögen und die Erkenntnis einer solchen -notwendigkeit voraus.

Davon abgesehen halte ich nichts davon, irgendwelche absoluten Zahlen als Referenz zu verwenden oder damit eine Form von Relativismus zu betreiben, den ich dir nicht unterstellen möchte, der aber zumindest anklingt wenn du mit größeren Opferzahlen argumentierst und das "Drama" der Herero als "recht überschaubar" klassifizierst. Natürlich kann bei einem Volk, dass "nur" gut 100.000 Menschen zählt niemals eine Millionenzahl an Opfern heraus kommen, aber was ändert das am Wesentlichen?

Insofern bleibe ich dabei, Absicht und Ausführung als einzig relevante Punkte bei der Definition anzusehen, plus natürlich die Kennzeichnung der Opfergruppe als eine solche. Den Rest muss man in jedem einzelnen Fall bewerten.
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#49
@Helios
Zitat:Das erschließt sich mir nicht, wieso sollte man Gefahr laufen, dass die "Grenzen verschwimmen", wenn man den Fokus weg von Absicht und Ausführung hin zur Tätersituation legt?
Weil ich ja die Verantwortlichen benennen können muss, gerade auch wenn ich Kriegsverbrecher und somit die Täter eines Genozids verfolgen will. Man könnte als Bsp. die Balkan-Kriege bemühen, wo es sehr wichtig war, die Hintermänner benennen zu können. Oder um es überspitzt zu sagen (und um wieder den Bogen zu schlagen): War von Trotha nun eine Art Mladic, der den Segen bzgl. Massenmord an der gegnerischen Bevölkerung von seinen Führern hatte und der berechtigterweise als Kriegsverbrecher wegen eines Völkermordes verurteilt wurde, oder aber eben nur ein William Calley, der mit seiner Task Force Barker My Lai zu "säubern" hatte, was dann zu einem Massaker (und ebenso einem Kriegsverbrechen) brutal ausartete?
Zitat:Meines Erachtens ist es eher umgekehrt der Fall, denn ich sehe keinen Grund, dass überhaupt die Regierung eines Landes bei einem Völkermord involviert sein muss. Meines Erachtens kann ein Völkermord auch von staatlichen oder nichtstaatlichen Gruppierungen ausgehen, oder auch von Konzernen bis hin zu (theoretisch) Einzelpersonen.
Jetzt zerfasern wir uns m. M. n. aber etwas. Um von der Theorie wieder etwas abzukommen: In der Praxis stand hinter quasi jedem bekannten und größeren Genozid eine staatliche Autorität (inwieweit sie dann ihre Verantwortung eingeräumt haben, steht wieder auf einem anderen Blatt), lokale oder nichtstaatliche Gruppen haben zumeist gar nicht die Möglichkeiten, eine solche konzertierte Aktion umzusetzen. Gerade deswegen muss in der Definition auch die staatliche Verantwortung bei einer Anerkennung unbedingt berücksichtigt werden - und diese fehlt eben bzgl. Deutsch-Südwest, auch wenn Deutschland nun in einer Art moralischem Verantwortungsbewusstsein so gehandelt haben mag.

Schneemann.
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#50
Das Problem: Wenn ein Volk faktisch er–/gemordet wurde (80% Herero), wie kann das dann ohne Täter geschehen sein? Vorweg: Selbstmord in Eigenverantwortung scheidet aus. Mit anderen Worten kann die historische Tatsache bei der Bewertung schwerlich hinter der (ggf. fehlenden Absicht des Staates) Absicht hintenanstehen.
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#51
Die Absicht von v. Trotha ist durch den zitierten Befehl klar (tötet alle Männer, vertreibt den Rest ohne Gnade). Der zitierte Text der Konvention legt nicht fest wessen Absicht es gewesen sein muss, die von v. Trotha genügt daher. Interpretiert und bewertet werden muss das Geschehen ohnehin, und dabei wiegt der faktisch passierte Mord an einem Volk zwangsläufig schwer.

Was der Staat mit der Wiedergutmachung anfängt ist absolut unerheblich, die kann im Prinzip auch im Spielkasino verzockt werden. Auch die Qualität der Regierung Namibias und die Zuverlässigkeit der Verwaltung spielt für die historische Bewertung keine Rolle. Das gilt noch mehr für Anzugordnung oder Mode, man muss die Nachkommen der Opfer nicht noch der Lächerlichkeit preisgeben wollen und sich so selbst disqualifizieren.

Es mag viele schwer einzuordnende Fälle in der Welt gegeben haben, aber dieser hier ist keiner. Im Gegenteil, sich nicht mit Händen und Füssen dagegen zu wehren hilft Deutschland in der internationalen Politik bei aktuellen Geschehnissen im Sinne von wertebasierter Politik. Was nicht bedeuten soll, dass der moralische Zeigefinger die ultimative Richtlinie sein sollte.
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#52
@Ottone
Zitat:Was der Staat mit der Wiedergutmachung anfängt ist absolut unerheblich, die kann im Prinzip auch im Spielkasino verzockt werden. Auch die Qualität der Regierung Namibias und die Zuverlässigkeit der Verwaltung spielt für die historische Bewertung keine Rolle. Das gilt noch mehr für Anzugordnung oder Mode, man muss die Nachkommen der Opfer nicht noch der Lächerlichkeit preisgeben wollen und sich so selbst disqualifizieren.

Es mag viele schwer einzuordnende Fälle in der Welt gegeben haben, aber dieser hier ist keiner. Im Gegenteil, sich nicht mit Händen und Füssen dagegen zu wehren hilft Deutschland in der internationalen Politik bei aktuellen Geschehnissen im Sinne von wertebasierter Politik. Was nicht bedeuten soll, dass der moralische Zeigefinger die ultimative Richtlinie sein sollte.
Das ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Und ich denke auch, dass die Anerkennung der Ereignisse in Deutsch-Südwest als ein Genozid rein aus politisch-moralischer Perspektive richtig war (sowohl menschlich als auch zwischenstaatlich und international). Nur denke ich, dass zugleich viele offene Fragen - abgesehen davon, dass die Nachfahren der Opfer selbst die Art der deutschen Anerkennung nicht akzeptieren - und im Gesamtkontext schlicht Grauzonen bleiben, die bei so einem gewichtigen und wichtigen Schritt eigentlich nicht bestehen sollten. Auch wenn moralisch-politisch insofern ein zivilisatorischer Gewinn erreicht werden könnte, sehe ich einen rechtlichen Rückschritt und eine vage Chance, dass mehr Unsicherheiten daraus entstehen und sogar die Möglichkeit besteht, dass zukünftig Völkermorde eher relativiert werden könn(t)en.

Schneemann.
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#53
Wie auch in Polen oder Griechenland werden die Forderungen nach (höheren) Reparationen nie verstummen. Wenn Deutschland und Namibia einvernehmlich ein Verhandlungsergebnis erzielen, dann ist das ersteinmal ausschlaggebend.
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#54
Kann ja sein, ist aber völlig egal.

EDIT: Und die Opferzahlen wären sehr ungleichgewichtig, irgendwo zwischen Faktor 10 und näher an der 100. Aber wie gesagt: Das spielt keine Rolle. Null.
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#55
Hier zeigt sich leider mal wieder dass es wohl hauptsächlich ums Geld geht. Herero und Nama die sich historisch betrachtet oft brutal bekämpft und gegenseitig massakriert haben tun sich dafür wohl zusammen? Für mich stellt sich hier die Frage ob die Herero- und Namavertreter ähnliche Forderungen auch untereinander stellen? Und wenn nicht, warum tun sie dies nicht? Wobei wir vermutlich wieder beim Eingangssatz wären.

https://www.rnd.de/politik/voelkermord-i...NWM24.html
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#56
Offensichtlich ist gegenseitig nichts zu holen, zudem lebt man ja tagtäglich miteinander inklusive aller Konflikte.
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#57
(31.05.2021, 14:31)Schneemann schrieb: Weil ich ja die Verantwortlichen benennen können muss, gerade auch wenn ich Kriegsverbrecher und somit die Täter eines Genozids verfolgen will.

Dafür sind aber genauso wie für Absicht und Ausführung die Strukturen der Täter irrelevant, wichtig sind letztere nur für die Feststellung der Täterschaft als solche, nicht für die Definition des Verbrechens.

Zitat:Um von der Theorie wieder etwas abzukommen: In der Praxis stand hinter quasi jedem bekannten und größeren Genozid eine staatliche Autorität (inwieweit sie dann ihre Verantwortung eingeräumt haben, steht wieder auf einem anderen Blatt), lokale oder nichtstaatliche Gruppen haben zumeist gar nicht die Möglichkeiten, eine solche konzertierte Aktion umzusetzen. Gerade deswegen muss in der Definition auch die staatliche Verantwortung bei einer Anerkennung unbedingt berücksichtigt werden - und diese fehlt eben bzgl. Deutsch-Südwest, auch wenn Deutschland nun in einer Art moralischem Verantwortungsbewusstsein so gehandelt haben mag.

Das ist doch schon rein logisch ein Zirkelschluss: weil hinter den bekannten Völkermorden eine staatliche Autorität stand, kann ein Verbrechen, bei dem das nicht der Fall ist kein Völkermord sein, womit dauerhaft gesichert ist, dass hinter jedem Völkermord zwingend eine staatliche Autorität steht. Auch die Erkenntnis, dass bspw. nichtstaatlichen Gruppen zumeist die Möglichkeiten zum Völkermord fehlen (was in Anbetracht von Massenvernichtungswaffen keinesfalls sakrosankt ist), erklärt vielmehr das Fehlen eines größeren Anteils solcher Verbrechen, als dass es einen Einfluss auf die Definition sinnvoll erscheinen lässt.

Durch die UN-Definition ist jedenfalls eine Regierungsbeteiligung oder eine andere Form von staatlicher Autorität nicht notwendig, um ein Verbrechen als Völkermord zu betiteln. Du darfst selbstverständlich trotzdem eine solche für zwingend erachten, ich tue es nicht, weiter werden wir nicht kommen.

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(31.05.2021, 11:34)Quintus Fabius schrieb: Als Quellen für meine Aussagen verweise ich hier erneut auf die Arbeiten von Brigitte Lau, Matthias Häussler, Isabel Hull und Schneider-Waterberg, welche ganz klar beweisen, dass das heutige Narrativ welches einzig und allein auf der Arbeit Drechslers (eines kommunistischen DDR Historikers) beruht vor den historischen Tatsachen nicht standhält.

Die Bedeutung von Drechslers Arbeit als wesentlich für das Narrativ der heutigen Geschichtsschreibung wird überhöht, weil er der erste war, der die Ereignisse in Deutsch-Südwestafrika als Völkermord bezeichnete und damit die Aufmerksamkeit deutschlandweit (in Ost und West) auf diese Geschehnisse lenkte (und letztlich mit seiner Kolonialforschung ja weltweiten Ruhm erntete, deutlich über den kommunistischen Dunstkreis hinaus, der ja stets als Hauptargument gegen ihn verwendet wurde, du führst das ja auch extra nochmal an). Dass es nicht von Trothas Absicht war, die Herero aus dem Kessel von Waterberg entkommen zu lassen ist inzwischen Konsens, und dass der Vernichtungsbefehl in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer als der Hauptbeweis Verwendung findet liegt mehr an der sehr plakativen, direkten Ausdrucksweise als an seiner ideologischen Wirksamkeit.

Und natürlich ist es bedauerlich, dass Quellensammlungen wie jene von Lau oder Schneider-Waterberg (oder auch das Archiv Trothas), auch wenn diese primär aus subjektiven Eindrücken bestehen, zu wenig Berücksichtigung finden. Aber es ist falsch anzunehmen, dass dies die einzig richtigen Quellen sind, die einzigen, die das Geschehen wahrhaftig widergeben. Wenn du beispielsweise Matthias Häussler und Isabell Hull als Quellen für deine Aussagen nennst, beide haben dafür gesorgt, einen anderen Blick auf die Geschehnisse zu werfen, beide aber vertreten die Ansicht, dass es sich dabei um einen Völkermord handelte und führen sogar explizit aus, warum das Aussortieren fehlerhafter früherer Begründungen keinen Einfluss hat - eben weil die Quellenlage eindeutig genug ist.

Insofern beschreiben deine Beiträge hier zum Ablauf und zur Bewertung von Absicht und Ausführung nicht das, was tatsächlich passiert ist, sondern drücken vielmehr deine Meinung aus, darüber, was zu berücksichtigen ist und was nicht. Zitiert etwa Schneider-Waterberg aus dem privaten Tagebuch von Trothas, so hat das relevant, während die im Bundesarchiv lagernden privaten Aufzeichnungen verschiedener Offiziere (die etwa die Sicherung von Wasserlöchern anders beschreiben) keine Relevanz besitzen.

Jetzt könnte man natürlich, so wie das auch im von dir verlinkten Spiegel-Artikel gemacht wird, darauf verweisen, dass die Fachleute sich wohl nie einigen können und in zwei Lager gespalten sind - bloß ist das nicht der Fall. Denn das Groß an verfügbaren Quellen zeichnet doch ein eindeutiges Bild hinsichtlich der Absichten, und das von Anfang an, und ohne irgendeine ideologische Verfälschung. Schwieriger wird es wegen der Ausführung, weil es da vermeintlich widersprüchliche Angaben gibt, die aber in Anbetracht der sich stark unterscheidenden Erlebnisse und der fehlenden Kommunikation und Koordination vielleicht gar nicht so widersprüchlich sind, nämlich dann, wenn Einzelaussagen auch als solche Berücksichtigung finden? Bloß wären wir dann wieder beim aktuellen Stand, der aufzeigt, wie nach dem fehlgeschlagenen Plan von Trothas bei Waterberg die Hereros im Sandveld festgesetzt wurden mit dem Ziel, möglichst viele von ihnen umkommen zu lassen.
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#58
(31.05.2021, 21:34)Quintus Fabius schrieb: Aber selbst aus diesem Buch geht klar hervor, dass erstens: die übliche Darstellung des Geschehens so nicht stimmt

Du bezeichnest eine von manchen populärwissenschaftlichen Medien fälschlicherweise verwendete Argumentation als "übliche Darstellung", die es so in der Form aber gar nicht gibt. Weder der wissenschaftliche Dienst des Bundestags (der ja auch mit Blick auf die Anerkennung des Völkermords eine Rolle spielte) noch die Kolonialforschung folgt einem veralteten Forschungsstand, und gerade die Arbeit von Hull findet in beiden Bereichen großen Widerhall. Das passt halt nicht zur These mit dem soziokulturellen Narrativ.

Zitat:und zweitens: dass die Gründe für die Eskalation der Gewalt dort wesentlich komplexer waren und mehr in der militärischen Kultur zu suchen sind als in einem tatsächlichen Willen zum Völkermord. Isabel Hull beschreibt es im Prinzip so, dass der Völkermord das zwingende Resultat der deutschen Militärkultur war, so dass er zwar nicht geplant war, also keine Absicht im Sinne der heutigen Konvention hinter dem Geschehen stand, dass aber die Umstände auch ohne diese Absicht einen Völkermord herbei führten.

Jein, denn auch wenn die Gründe definitiv komplexer waren, zeichnet sie ein Bild von Trothas, dass durchsetzt ist von rassistischen Vernichtungsphantasien, anhand von Aussagen, Briefen und Befehlen sowohl aus seiner Zeit in Deutsch-Südwestafrika, wie auch von früheren Einsätzen beispielsweise während des Boxeraufstands. Ihr Ziel ist es dabei zu zeigen, dass genau diese Einstellung von Trothas dafür gesorgt hat, dass er sich für die Niederschlagung des Herero-Aufstands qualifizierte, womit sie der deutschen Politik selbst entsprechende Vernichtungsabsichten unterstellt, weil diese Teil der militärischen Kultur gewesen sein sollen. Aus diesem Grund überhöht sie auch die Einflussnahme des Kaisers, der den Ansichten von Trothas ja deutlich näher stand als Beispielsweise von Bülow. Aus dem Grund ist es durchaus auch angebracht, ihre Interpretation kritisch zu betrachten, was für jede Interpretation der Geschehnisse gilt.

Zitat:Das ist so für meine Position nicht ganz richtig. Beispielsweise führt Isabel Hull im Kapitel über die Verfolgung ausdrücklich mehrere Aufzeichnugnen von deutschen Soldaten an und zitiert diese auch. Auch diesen Aufzeichnungen geht klar hervor, dass die Verfolgung nicht dazu diente die Herero von den Wasserlöchern zu vertreiben, sondern dass es das Ziel der Verfolgung war erneut eine Schlacht zu führen, eine Entscheidungsschlacht zu erzwingen bzw. den Gegner in eine Schlacht zu verwickeln. Das zieht sich so durch sämtliche Aufzeichnungen der Verfolger.

Das Problem dabei ist aber, dass es nicht nur um eine (teilweise fiktive) Verfolgung geht, die so von den Truppen gar nicht durchgehalten werden konnte, sondern anschließend eine gezielte Verteidigung von Wasserlöchern, an denen zurückkehrenden Hereros aufgelauert wurde. Dies waren keine vereinzelten Einsätze, es gibt die Einsatzbefehle für verschiedene Einheiten, es gibt die Tagebücher, es gibt auch private Korrespondenzen, die belegen meines Erachtens recht eindeutig, was dort passierte. Ebenso im übrigen auch, dass entgegen des Vernichtungsbefehls Gefangene gemacht wurden, weil manche diesem Verdursten nicht zuschauen konnten.
Natürlich ist es falsch, die Region als wasserlose Sandwüste zu beschreiben, aber es ist auch keine bis zur Grenze gleichbleibende Savannenlandschaft. Vielmehr wird die Versorgungssituation umso schwieriger, je weiter nach Osten man sich bewegt, und auf die typischen Weidegründe folgt eine weitgehend wasserlose Gegend mit nur wenigen brauchbaren Wasserstellen, eine Wüste, aber keine klassische Sandwüste, die einem als erstes in den Sinn kommt.

Zitat:Und du wirst doch wohl nicht bestreiten, dass die Entscheidung die Omaheke zu durchqueren eindeutig von den Anführern der Herero so beschlossen wurde?! Die Anführer der Herero waren also Schuld daran, dass ihr Volk in der Omaheke dann aus Wassermangel erhebliche Verluste hatte.

Die Frage ist, welche andere Wahl sie tatsächlich hatten? Die Vorbereitungen für die Gefangenname und Zerschlagung der Herero als Kultur gingen noch von Leutwein aus, er hatte entsprechend improvisierte Konzentrationsanlagen am Waterberg geschaffen, und er war es auch, der bereits die Deportierung und die "Zuteilung" als Arbeitskraft sowie die Verteilung von Viehbeständen organisierte (bzw. organisieren ließ). Von Trotha führte das zwar zunächst weiter fort, ließ aber wie von mir erwähnt keine Möglichkeit zur Kapitulation rund um die Schlacht am Waterberg zu.
Lau hat in ihren Studien die wenigen Herero-Quellen verarbeitet, die es zu diesem Thema überhaupt gibt, und die belegen, dass die Herero fest von einem Angebot zur Kapitulation ausgingen, weil das der üblichen Politik entsprach. Hull zieht daraus im übrigen den Schluss, dass es vermutlich deshalb auch im Vorfeld der Schlacht am Waterberg keine konzentrierten Aktionen der Herero gegen die deutschen Kräfte gab, obwohl sich dafür Möglichkeiten boten. Dieses sonst übliche Angebot gab es aber nicht, es gab auch keine Versuche einer Kontaktaufnahme von Seiten von Trothas, und zumindest aus einigen Tagebucheinträgen ist heraus zu lesen, dass den Herero die Kontaktaufnahme selbst auch unmöglich gemacht wurde (wenn sie eine solche beabsichtigt haben, was nicht mehr nachvollziehbar ist). Von Trotha wollte die Schlacht, er wollte den kriegerischen Erfolg. Insofern war es die Entscheidung der Hereros, die Omaheke zu durchqueren, aber sie hatten auch nicht so viele Alternativen.

Zitat:Das beißt sich doch mit der Aussage von dir weiter oben, dass dies am Waterberg gar nicht die Absicht von Trothas war.

Da hast du mich missverstanden, der Plan von Trothas, die Entscheidung militärisch herbei zu führen misslang, er ging davon aus, dass sich die abgesetzten Hereros gegen die Siedlungsgebiete wenden könnten. Bloß gab es von einer solchen Bewegung keine Anzeichen, was auch ein Grund war, warum er die Hereros erst so spät verfolgen ließ. Als klar wurde, dass sie sich hin zur Grenze wendeten war auch klar, dass sie diese in der Zahl gar nicht durchqueren konnte. Anschließend ließ er die bekannten Wasserstellen im Bereich der westlichen Omaheke sichern und dort auf jeden schießen, der aus dem Osten zurückkehrte.

Zitat:Was mich an der ganzen Sache verwundert ist, wie sehr man sich hier ohnehin auf die Person von Trothas versteift und auf das Geschehen in der Omaheke, statt hier die unsagbaren Zustände in den Konzentrationslagern und bei der Zwangsarbeit (de facto Versklavung) mehr in den Vordergrund zu stellen.

Weil er die zentrale Figur ist, und seine Äußerungen und Handlungen, wie effektiv sie nun letztlich auch gewesen sein mögen, die Absicht nahelegen.

Zitat:Oder das deutsche Truppen unterschiedslos und massenweise Herero erschossen, und zwar nach der Rücknahme des Befehls von Trothas, also genau genommen entgegen den geltenden Befehlen. Dass die Gewalt gegen die Herero erst zum Schluss hin so richtig Fahrt aufnahm und dies ganz unabhängig von den Befehlen von Trothas und dem Geschehen in der Omaheke?!

Die Bekanntmachung und der Befehl stehen deshalb immer wieder im Vordergrund, weil sie plakativ die Absichten von Trothas auf den Punkt bringen, sie sind aber beide nicht besonders relevant, weder für die Absicht, erst recht nicht für die Ausführung. In dem Punkt stimme ich dir zu. Deshalb ist es nachvollziehbar, warum populärwissenschaftliche Artikel sich darum drehen, aber es ergibt keinen Sinn, sie zum Zentrum einer wissenschaftlichen Betrachtung zu machen. Allerdings geschieht das soweit ich das sehe nicht (mehr).
Aus diesem Grund ist auch die Kontinuität losgelöst von Befehl und Rücknahme wenig verwunderlich, es waren noch immer der gleiche Protagonist mit den gleichen Absichten kontrollierende Figur der Geschehnisse, bis hin zu der Organisation von Konzentrationslagern (auch wenn es die schon vorher gab).

Zitat:Nehmen wir mal aus dem vorliegenden Fall nur ein einziges Beispiel: Herero bedeutete im Sprachgebrauch der meisten der damaligen Offiziere und Deutschen: ein männlicher bewaffneter Krieger dieses Volkes. Wenn es also hieß: wir beschlossen also die Herero welche wir am Ort xy antrafen alle zu erschießen, ist damit nicht gemeint dass alle erschossen wurden - sondern dass die bewaffneten Männer erschossen wurden.

Die Erklärung ist naheliegend, weil in der Regel solche Stammesbegriffe primär auf die Männer angewendet wurden, die wiederum allesamt als "Krieger" galten, sofern sie sich dafür körperlich eigneten. Es wurden allerdings genauso üblicherweise Frauen und Kinder den Männern zugeordnet, ohne jeweils explizit erwähnt zu werden, auch wenn es etwa um Meldelisten oder ähnliches geht. Schaut man sich etwa von Trothas Bekanntmachung an, in der von jedem "Herero mit oder ohne Gewehr" gesprochen wird, so ergibt "männlicher bewaffneter Krieger" schon rein logisch keinen Sinn. Daher muss man die Verwendung des Begriffs schon differenzierter sehen, etwa ob es sich um interne militärische Dokumente handelte, oder persönliche Notizen, oder öffentliche Bekanntmachungen. Darüber hinaus gibt es ja auch etliche Dokumente, in denen explizit Frauen und Kinder genannt werden, die genauso berücksichtigt werden müssen.

Zitat:Legt man deine Definition von Völkermord an, oder die von Isabel Hull, dann besteht die menschliche Geschichte in weiten Teilen aus Völkermorden. Dann war Völkermord die ganze Geschichte hindurch die vorherrschende Normalität. Allein die sich daraus ergebende Realitivierung kann ich aufgrund gewisser Verantwortlichkeiten Deutschlands im 20 Jahrhundert nicht gut heißen. Aber selbst unabhängig davon ist das eine einfach nur negative Entwicklung, welche weder der Gerechtigkeit dient noch der Aussöhnung.

Die Definition von Hull eignet sich vor allem dazu, das Kaiserreich von anderen Kolonialmächten abzugrenzen und so am ehesten andere Kolonialverbrechen zu bagatellisieren (auch wenn sie das meines Wissens nicht macht).
Meine Definition gibt es in dem Sinn nicht, ich orientiere mich weitgehend an der UN-Definition, wobei ich der kontroversen Bedeutung von "teilweise" nicht zu viel Beachtung schenke, weil das für mich nur ein Nebenkriegs- oder sogar Relativierungsschauplatz ist. Weit mehr jedenfalls, als das Gefahr besteht, irgendein Verbrechen dadurch zu relativieren, in dem man bei anderen eine übergeordnete Absicht herausstellt. Denn um nichts andere geht es letztlich, wenn man von Völkermord spricht.

Zitat:Als Buchempfehlung möchte ich in diesem Kontext nennen: Der Schuldkomplex: Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa - von Pascal Bruckner.

Genauso wie "Der eingebildete Rassismus" ein gutes Buch, in dem Kontext finde ich allerdings beide unpassend. Weil es wieder eine Verbindung herstellt, die in meinen Augen das eigentliche Problem darstellt: wenn geschichtliche Aufarbeitung von äußeren Faktoren gelenkt wird, völlig egal ob es sich dabei um soziokulturelle Narrative oder juristische Verantwortlichkeiten handelt, kommt man weder der Wahrheit näher, noch wird man irgendetwas daraus lernen.
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#59
(03.06.2021, 00:07)Quintus Fabius schrieb: Der aktuelle wissenschaftliche Forschungsstand ist aber eben nicht so einheitlich wie es meist dargestellt wird. Ganz allgemein ist die Geschichts"wissenschaft" oft mehr eine Aussage über die Gegenwart als über die Vergangenheit, sie unterliegt massiv dem Narrativ der Gegenwart.

Für mich liegt der wissenschaftliche Forschungsstand primär in der Quellenaufarbeitung, wozu Sammlung und Einordnung gehört (darunter fallen etwa auch die von dir erwähnten zeitgenössischen Erklärungen zu Begriffen, die heute anders aufgefasst werden), darauf bauen dann die zeitgenössischen Interpretationen auf, die einerseits natürlich die Wahrnehmung bestimmter Ereignisse in einer bestimmten Zeit bestimmen, zum anderen aber auch selbst von der Zeit und der "Gesinnung" des Autors geprägt sind, mal sehr stark, mal kaum merklich, aber letztlich nie völlig losgelöst davon.
Ersteres bildet die wissenschaftliche Basis, auf der letzteres dann jeweils gedeihen kann, durchaus auch in unterschiedlichste Richtungen. Dein Argument war aber, dass der aktuelle Stand, von dem du dann wieder sagst, dass es ihn nicht gibt, beispielsweise in der Politik keine Berücksichtigung findet. Im Endeffekt willst du damit nur ausdrücken, dass dir die Interpretationen der Quellenlage, die von der Regierung verwendet werden, dir nicht gefallen. Das ist legitim, aber daraus kann man keine qualitative Aussage ableiten.

Zitat:Ich habe ja bewusst durchgehend keine Zahlen genannt.

Ich auch nicht, weil die Zahlen mangels einheitlicher Datenerhebung willkürlich interpretiert werden können, letztlich aber sowieso nur bedingte Relevanz bei der Bewertung haben, sofern man nicht nur solche Fälle, bei denen die vollständige Vernichtung gelingt, als Völkermord bezeichnen will.

Zitat:Schneider-Waterberg hat meiner Ansicht nach klar bewiesen, dass am Waterberg keineswegs so viele Herero waren wie es gemeinhin behauptet wird, und dass also deutlich weniger durch die Omaheke flohen und folglich dort auch nicht so viele umgekommen sind.

Nein, er hat das aufgrund der ihm bekannten Quellen interpretiert, genauso wie andere zuvor aufgrund anderer Quellen zu anderen Interpretationen gekommen sind. Und genau da liegt ja wieder das Problem, er ist primär ein Sammler von Informationen, an die andere so nicht heran gekommen sind, das muss man ihm zu Gute halten, er ist aber kein Wissenschaftler und interpretiert diese Informationen mit einer recht starken Agenda (wie mir scheint, ich kenne ihn ja nicht, aber selbst in dem von dir verlinkten, wohlwollenden Spiegel-Artikel wird das thematisiert), und darauf lässt sich meines Erachtens eben so nicht aufbauen. Denn das bedeutet nur und ausschließlich Willkürlichkeit, die einem halt in dem einen Fall gefällt und in dem anderen nicht.

Zitat:Ich habe ja explizit geschrieben, dass in den Lagern, bei der Zwangsarbeit und durch Seuchen nach dem Geschehen in der Omaheke immense Zahlen an Herero umgekommen sind. Mir geht es also gar nicht so sehr darum ob hier nicht insgesamt eine Mehrheit der Herero umgekommen ist, auch nicht darum aus welchem Geist heraus sie umgekommen sind, sondern primär darum, dass sie eben nicht mehrheitlich in der Omaheke umkamen, sondern geraume Zeit danach und aus anderne Gründen.

Betrachtet man alle Quellen, liegt es nahe anzunehmen, dass die Zahl der Herero, die in der Omaheke umkamen geringer ist, als das in der Vergangenheit vermutet wurde. Ja, dem kann ich folgen, auch wenn ich anhand der Gesamtheit der Quellen von deutlich dramatischeren Verhältnissen ausgehen muss, als du sie hier anführst.
Ich kenne aber keine aktuellen Interpretationen, die den Völkermord nur mit eben diesen Aktionen verknüpfen. Davon ging man vor über fünfzig Jahren aus, als die dahin gehende Forschung am Anfang stand und die Quellenlage insgesamt deutlich dünner war (es wusste ja zu dem Zeitpunkt beispielsweise noch niemand, was es zu den Geschehnissen in namibischen Archiven lagert, auf die westdeutschen Sammlungen hatte Drechsler zu dieser Zeit auch nur einen sehr beschränkten Zugriff)

Zitat:Mal ernsthaft: wie lange sollen die Herero denn nachdem sie alles Wasser aufgebraucht bzw verseucht haben in diesem Klima während der Trockenzeit dort überlebt haben? Nach zwei Tagen ohne Wasser bist du dort bereits am Ende, nach drei bis vier Tagen tot.

Sie waren doch nicht völlig ohne Wasser, das hast doch explizit du selbst angeführt und es ist auch korrekt. Nur reichten die Wasserstellen in der Omaheke nicht aus, um die Zahl an Hereros und deren verbleibendes Vieh zu versorgen. Die Annahme, dass die meisten bereits nach drei oder vier Tagen tot waren ist völlig willkürlich und deckt sich nicht mit der Quellenlage. Denn es gab jene, die die Durchquerung schafften, es gab jene, die nach Norden und Süden auswichen, und es gab auch jene, die zurück kehrten. Ich betone das noch einmal, auch wenn du immer wieder das Gegenteil behauptest, nur weil ein Teil der Quellen vermeintlich keine Erkenntnisse dazu hat, bedeutet dies nicht, dass dadurch alle anderen Quellen, die von entsprechenden Ereignissen berichten, falsch sind. In der Gesamtheit muss man von einer anderen Quantität ausgehen, wie gesagt bin ich da bei dir, aber trotzdem gab es die Aufeinandertreffen, das gezielte Fernhalten von den größeren Wasserquellen im westlichen Bereich der Omaheke, auch die (gut dokumentierten) Gefangennahmen. Das ist keine Fiktion.

Zitat:Da hast du schon recht, und diese Quellen sind genau so kritisch zu betrachten. Gerade deshalb ! schätze die Arbeiten Schneider-Waterbergs so, weil dieser seine Aussagen nicht allein auf die Originalquellen abstütz, sondern insbesondere auch auf Logik und gesunden Menschenverstand und beide gebieten, dass das Geschehen so nicht stattgefunden haben kann.

Das sehe ich anders, für mich ist er primär wegen seiner Originalquellen interessant, seinen Interpretationen kann ich aufgrund der Willkürlichkeit wenig abgewinnen. Und ich behaupte, dass mir Logik auffällt, wenn ich sie sehe Wink

Zitat:Unabhängig von der Quellenvielfalt gibt es einfach zwingende logische Fakten. Wenn eine Quelle etwas behauptet was einfach rein physisch nicht möglich ist, dann muss diese Quelle falsch sein.

Sofern zweifelsfrei festgestellt werden kann, dass etwas physisch nicht möglich ist. Und das ist eben nicht so einfach. In ähnlichem Maße wie etwas nicht gleich wahrscheinlich wird, nur weil es vorstellbar ist, kann auch etwas nicht unwahrscheinlich sein, nur weil es nicht vorstellbar ist. Und nur weil ein Teil einer Aussage falsch ist, muss nicht die gesamte Aussage falsch sein. Diese kritische Bewertung von Quellen ist die Hauptarbeit der Geisteswissenschaften, häufig geleistet von Leuten, die dann irgendwo in Danksagungen erwähnt werden. Sie ist aber die notwendige Basis, und häufig nicht vorhanden, wenn es um Einzelschriften geht.

Zitat:Ein Blick auf Google Maps zeigt dass dem nicht der Fall ist.

Bei allem Respekt, aber das kannst du über Google Maps nicht feststellen, und ohne hier zu viel dazu sagen zu wollen, in dem Punkt weiß ich sehr genau, wovon ich rede.

Zitat:Gerade dem will ich explizit widersprechen. Von Trotha wollte entsprechend seiner Indoktrination wie auch der militärischen Kultur im Reich entsprechend eine Entscheidungsschlacht wie auch einen absoluten militärischen Sieg.

Er sollte und wollte das "Herero-Problem" dauerhaft und militärisch ehrenvoll lösen, insofern stimme ich dir ja durchaus zu und habe das auch so ausgeführt, dass er deshalb bewusst die Entscheidungsschlacht und den militärischen Sieg wollte. Aus dem Grund hat er auch die Ergebnisse der Schlacht zumindest nach außen hin aufgebauscht, um genau diesen Eindruck des Erfolgs zu erzielen. Trotzdem musste er noch eine tatsächliche Lösung finden, und auch wenn ihm persönlich sicherlich eine weitere, diesmal endgültige Entscheidungsschlacht, eher zugesagt hätte, so hätte diese durchaus auch weitere Fragen aufgeworfen. Ich will damit nicht sagen, dass er deshalb auf eine solche verzichtet hätte, aber ungelegen kam ihm der weitere Verlauf nicht.

Zitat:Fakt ist, dass unser heutiges Denken sehr weitgehend von dem damaligen Denken abweicht und dass aus dieser Differgenz heraus viele Dinge welche damals geschahen leicht fehlinterpretiert werden können.

Natürlich, aber deshalb verweise ich ja gern noch mal auf die öffentliche Berichterstattung zur damaligen Zeit, die geprägt war von einer sehr selektiven, aber sicherlich nicht die eigenen Absichten und Ausführungen kritisch hinterfragenden Quellenlage, und trotzdem zu dem Schluss kam, dass es im Kern um die Vernichtung der Herero ging.
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#60
(04.06.2021, 23:34)Quintus Fabius schrieb: Da hast du mich aber leider missverstanden. Ich gehe sehr wohl von einer Tragödie sondergleichen aus, nicht von der Quantität her, aber durchaus von der Qualität her. Mehrfach schrieb ich Drama, Tragödie usw.

Ich meinte diese Aussage insbesondere in Bezug auf die Omaheke, bei der du ja von deutlich geringeren Verlusten ausgehst als dies Allgemein der Fall ist. Ich wollte dir nicht unterstellen, dass du die Qualität des Geschehens insgesamt herunterspielst. Für mich liegt allerdings in der Gesamtheit die Verantwortung bei den deutschen Truppen.

Zitat:Im westlichen Teil der Omaheke ist genug Wasser gewesen auch für größere Zahlen von Herero. Gerade deshalb haben die Herero dort auch oft die Wasserstellen mit Rinderkadavern unbrauchbar gemacht. Die drei bis vier Tage bezog sich auf den östlichen Teil in welchem nicht mehr genug Wasser war.

Um das zu Rekapitulieren, die deutschen Truppen trifft keine Verantwortung für das Gros der Todesfälle in der Omaheke, weil diese bereits vor der eigentliche Verfolgung eintraten (drei bis vier Tage) und auf das Verhalten der Herero zurückzuführen waren, obwohl du gleichzeitig einräumst, dass in dieser Zeit ein durchqueren der östlichen Omaheke möglich gewesen wäre und es keine Quellen darüber gibt, wann Wasserstellen vergiftet wurden und in welcher Dimension das insgesamt passierte. Ganz ehrlich, ich kann dir hier schon rein logisch einfach nicht folgen, weil diese gesamte Betrachtung auf Annahmen beruht, die sich teilweise widersprechen.

Zitat:Natürlich kann man jetzt argumentieren, dass die Herero in blinder Panik vor den Deutschen flohen und weil diese nachsetzten aus blinder Panik heraus wegen eben dieser Verfolgung immer weiter nach Osten flohen. Dessen ungeachtet war es eben nicht das Ziel der Verfolgung welche am 30 September endgültig abgebrochen wurde die Herero zu vertreiben. Das Ziel war allein sie zur Schlacht zu stellen

Und das Ziel der Schlacht war, genauso wie am Waterberg, die Herero als Gemeinschaft zu vernichten. Und diese übergeordnete Absicht ist der Grund, warum heute diese Ereignisse als Völkermord eingeordnet werden, auch wenn sich die genaue Betrachtung der Handlungen in den letzten Jahrzehnten aufgrund eines immer größeren Quellenfundus gewandelt hat und vermutlich auch noch wandeln wird.

Zitat:Deine Aussage bezieht sich vermutlich auf den Befehl von Trothas am 01 Oktober nach endgültigem Abbruch der Verfolgung

Nein, die Aussage bezieht sich primär auf den Zeitraum ab Ende August und ist dokumentiert anhand der privaten Aufzeichnungen deutscher Militärs (Sammlung Bundesarchiv, zitiert von verschiedenen Autoren, bspw. auch Hull, genaue Referenz müsste ich raussuchen). Aus diesem Grund kann ich deiner Einschätzung eines einheitlichen Gesamtbildes deutscher Primärquellen, wie bereits mehrfach gesagt, nicht nachvollziehen.

Zitat:Wie offensichtlich bin ich kein Geisteswissenschaftler.

Ich glücklicherweise auch nicht, mir ist da die Klarheit naturwissenschaftlicher Argumentation deutlich lieber. Aus dem Grund bin ich allerdings auch vorsichtig hinsichtlich persönlicher Interpretationen, was zwangsläufig dazu führt, dass ich dem geisteswissenschaftlichen Mainstream näher stehe.

Zitat:Aber es zieht sich doch wirklich durch alle deutschen militärischen Quellen, dass man die ganze Verfolgung hindurch nur ständig versucht hat eine Schlacht zu führen. Das ist damals im Reich einfach derart die Doktrin gewesen, die waren allesamt besessen von Cannae.

Das eine schließt das andere aber doch nicht aus? Für mich ist die unmittelbare Zielsetzung der deutschen Bemühungen auch gar nicht so relevant im Vergleich zur übergeordnete Absicht, und die Bestand von Anfang an (und damit meine ich schon unter Leutwein) in der Zerschlagung der Herero mindestens als Gemeinschaft.
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