03.04.2022, 15:16
Zitat: Wer hätte das je gedacht (außer vielleicht Nightwatch)Habe ich sicherlich nicht. Ich bin vor dem Krieg davon ausgegangen, dass sich Russland maximal auf die Ostukraine beschränken wird. Schon den (waghalsigen) Vorstoß auf Kiev (durch Tschernobyl auch noch) sah ich so überhaupt nicht.
Ich hatte im Vorfeld als maximale Variante eher auf eine raumgreifende Operation auf den Dnepr getippt, mit einer Stoßachse der massierten Panzerkräfte aus Belgorod westlich an Charkiv vorbei nach Süden und einer nach Westen aus Donezk mit den Kräften aus dem Raum Rostov. Getroffen hätte man sich dann vor Dnipropetrowsk und damit wohl große Teile des ukrainischen Feldheeres im Osten eingekesselt. Das wären zwar auch etliche Kilometer gewesen, aber zwischen Charkiv und Dnipropetrowsk laufen die für ukrainische Verhältnisse gut ausgebauten Straßen M18 und M29 parallel zueinander durch sehr panzergünstiges Gelände.
Rückblickend bin ich damit gleich aus mehreren Blickwinkeln voll danebengelegen.
Die in meinen Augen rein politstrategische Operation um Kiev ist das eine. Rückblickend sehe ich da keinen tieferen militärischen Sinn dahinter als die Hoffnung, dass die Ukrainische Regierung halt zusammenbricht. Die Kräftekonzentration dort war nicht nur völlig unzureichend eine verteidigte Millionenstadt zu nehmen, man war noch nicht mal in der Lage eine Umfassungsaktion zu versuchen und Kiev von der Westukraine abzuschneiden. Das je ein entsprechender Plan auf Armeeebene oder darüber existierte halte ich mittlerweile eigentlich für ausgeschlossen. Das war nach der ersten Kriegswoche einfach nur noch eine sinnbefreite Aktion und der Verlauf spätestens in Woche drei (für mich) absehbar.
Dem gegenüber haben mich die russischen Erfolge im Süden genauso überrascht. Ich hatte die massiven Kräfte auf der Krim und den von dort ausgehenden Raumgreifenden Vorstoß am Dnepr hoch und bis auf Mariupol nicht auf dem Schirm. Ich ging im Gegenteil davon aus, dass die russischen Armeen die ukrainische Front im Donbas halt durchbrechen und bis zum Denpr durchrollen werden und man aus der Krim heraus erst aktiv wird, wenn die Lage im Ost geklärt ist. Allerdings ist da ja auch auf ukrainischer Seite extrem viel schief gegangen. Es ist mir unverständlich, dass man keinen Plan hatte die Brücken im Raum Cherson zu sprengen. Ebenso das man Melitopol und Berdjansk nicht verteidigt während man die Truppen in Mariupol in den Kessel gehen lässt oder angeblich ganze Verbände vom Angriff während eines Manövers überrascht werden. Die unzureichende Vorbereitung der Ukraine (im taktischen Kontext) in den Wochen und Tagen vor der Invasion müsste man sich da auch mal genauer anschauen.
Womöglich waren die Russen von ihren Erfolgen im Süden auch selber überrascht. Ich verstehe jedenfalls nicht, wie der Ausbruch aus der Krim effektiv fast die ganze Südfront zum Donbasbecken hoch aufrollen konnte, während im Osten ganze Panzerarmee nach wenigen Dutzend Kilometern Vormarsch in die Knie gehen. Der Kriegsverlauf dort ist für mich wesentlich erstaunlicher als das Gekloppe rund um Kiev. Die Informationslage von dort ist ja eher dürftig, aber es für mich militärisch eigentlich nicht erklärbar, wie die Ukrainer die Front dort (bislang) halten und die Russen keine tiefen operativen Einbrüche schaffen konnten.
Ich mein, die Russen können da doch nicht nach dem Motto ‚wir fahren mal los und schauen mal - yolo‘ reingegangen sein? Oder doch?! Oder anders gesagt: Jede Überlegung zum Kriegsverlauf ist zum Scheitern verurteilt, wenn der Gegner keinen Plan hat, der über ‚an Tag 2 ist der Feind von selbst zusammengebrochen‘ hinausgeht.
Andererseits verstehe ich das ukrainische Vorgehen im Donbas auch nicht wirklich. Warum klammert man sich so verbissen den Frontbogen zwischen Donetsk und Sievierodonetsk? So toll können doch dort die Feldbefestigungen garnicht sein, dass man dafür den russischen Vorstoß aus dem Süden mit Notnägeln stoppt, Mariupol einkesseln lässt und bei Izium den russischen Durchbruch riskiert? Da hätte schon in der letzten Woche eigentlich eine Frontbegradigung erfolgen sollen. Irgendwann ist es auch mal zu spät und eine geordnete Absetzbewegung nicht mehr möglich.
Aber gut, Kaffeesatzleserei, über die Lage ist zu wenig bekannt als das man das kompetent bewerten könnte. Und nur weil alle Welt jetzt erwartet, dass die Russen jetzt wenigstens im Donbas aufräumen werden, heißt dass nicht, dass sich der Kriegsverlauf kurzfristig groß ändern wird. Schon allein, weil die Ukrainer wahrscheinlich wesentlich schneller freigewordene Kräfte aus dem Norden verlegen können werden als die Russen.