13.04.2022, 13:56
Zitat:Die russische Kampfgruppe manövriert nicht. Die drei Gruppenführer des Zuges (von denen zwei, die nicht Zugführer sind, beim Anlanden herausfinden, was vor sich geht) sind nicht darauf trainiert, selbstständig zu handeln. Die Gruppe ist nicht auf Manöver ausgerichtet, sondern dient lediglich als Basis für Anti-Personen- und Panzerabwehrfeuer. Es ist der russische Zug allein, der unter dem Befehl eines Leutnants manövriert, der keinen Funker hat und das Kommando über den gesamten Zug (drei Gruppen und drei Fahrzeuge, die zugegebenermaßen oft dem Stellvertreter überlassen werden) mit dem Funknetz in den Ohren verwalten muss. In der Bilanz ist das schwierig und die Manöver sind begrenzt, mit einem Zug, der auf kleinem Raum sehr eng zusammensteht. Auch hier mit einer geringen Truppenstärke reichen einige Verluste aus, um die Gesamtwirksamkeit sehr schnell zu verringern, und wenn der Zugführer neutralisiert wird, ist der Zug gelähmt.
Ergänzend: entsprechend sind auch die Taktiken im Vorgehen wesentlich einfacher und grobmotorischer und sehr eingeschränkt in ihren Reaktionsmöglichkeiten. Was ich bis jetzt gesehen habe bleibt man viel zu eng zusammen (was sicher mit der Frage der Führbarkeit zusammen hängt) und befindet sich die Führung immer durchgehend in der Mitte der Formation. Entsprechend trifft Feuer welches in Richtung der Mitte der Einheit geht fast immer automatisch die Führung derselben.
Dazu kommt die sehr geringe Eigeninitiative und Kampfunlust der russischen Soldaten. Diese simulieren (!) oft nur den Kampf wenn ein Offizier sie im Auge hat (wortwörtlich) und stellen unbeaufsichtigt einfach das Kämpfen ein wenn sie nicht direkt angegriffen werden.
Üblicherweise muss der Offizier die Bildung einer richtigen klassischen Schützenlinie per direktem Befehl anordnen, damit es überhaupt vorwärts geht. Dann rückt diese Schützenlinie mit zu geringen Abständen vor, in einem langsamen Laufschritt oder schnellem gehen und feuert dabei "aus allen Rohren" in Richtung des vermuteten Gegners bis man dessen Stellung einfach direkt durchquert hat. Alle feuern vollautomatisch um einen möglichst großen Kugelhagel zu erzeugen, Raketenwerfer werden wie in ganz früheren Zeiten die Musketen in Salven verwendet wobei Schützen dahinter jeweils am Nachladen der Werfer sind. Schnelle Sprints von Trupps oder Binomen sind unüblich. Es wird stattdessen sehr viel gefeuert während man sich bewegt.
Wenn die erste "Linie" dann ausfällt, wegen Verlusten oder noch üblicher weil die Munition alle ist, bleibt sie liegen und eine zweite Linie von hinten überholt durch sie hindurch und rückt in der gleichen Weise weiter vor. An dieser Stelle entsteht oft Feuer auf Eigene. Noch ein wesentlicher Aspekt scheint mir zu sein, dass die Russen sehr oft ihre Flanken nicht ansatzweise oder im Besten Fall nicht ausreichend decken. Man stürmt so im Endeffekt auf die gegnerischen Stellungen ein und hat dabei zwingend hohe eigene Verluste.
Als positiv muss man an diesem Vorgehen vermerken, dass es sehr einfach ist, selbst mit völlig untrainierten Truppen möglich ist und dass die Minderleistung der Soldaten vom Können wie von der Moral her dadurch teilweise kompensiert wird. Wenn ein fähiger Offizier eine solche Taktik auf kurze Distanz gegen eine Schwachstelle des Gegners richten kann ist das darüber hinaus oft ziemlich effektiv und vor allem anderen schnell und schafft dann weitere Möglichkeiten. Zudem ist es weitgehend unabhängig vom Vorliegen und Funktionieren moderner Technik und bietet auch bei völligem Versagen jedweden Funks etc. ein System welches unter widrigsten Umständen immer noch exakt gleich "funktioniert" wie wenn die Umstände deutlich besser wären.
Und schlussendlich wird so die Feuerkraft der Gruppe bzw. des Zuges deutlich besser entwickelt und genutzt als wenn man auf elaborierte Taktiken von Trupps und Binomen setzen würde, insgesamt wirken so immer mehr Soldaten zugleich auf den Gegner ein. Wenn sich dieser dadurch psychologisch beeindrucken lässt oder anderweitig niedergehalten werden kann, dann sind diese primitiven Techniken teilweise sogar höchst effektiv.
Der primäre Nachteil sind die zwingend deutlich höheren eigenen Verluste, was die Infanterie zu schnell ausblutet und wie es schon im Beitrag von voyageuer angerissen wurde ist die Infanterie ohnehin zu mannschwach um eine solche Zermürbung länger auszuhalten. Die russische Doktrin sieht das aber auch gar nicht vor. Infanterie ist wie Panzer genau genommen ein Wegwerfprodukt dass eine spezifische Wirkung entfalten soll und dann überflüssig wird. Das ist selbst heute noch die Auffassung in der russischen Armee.
Das Problem in der Ukraine ist nun, dass die Mannzahl dort begrenzt ist und man eben nicht endlose Massen an Wehrpflichtigen und Reserven Welle auf Welle hinterher werfen kann, sondern nach der ersten Welle eben gar nichts mehr kommt. Der Mangel an Quantität hat hier in Verbindung mit der russischen Doktrin an sich viele Probleme für die Russen geschaffen, den die russsische Doktrin ist nicht auf eine so geringe Quantität hin ausgelegt. Den das gleiche was für Gruppen und Züge gilt, das gilt auch für Bataillone und Regimenter. Hinter dem ersten folgt ein zweites und bleibt das erste liegen, geht das zweite darüber hinweg und weiter vor usw usw. In der Ukraine kamen aber nach den ersten Verbänden eben keine zweiten, mangels Masse insgesamt.
Die sehr tiefgestaffelte russische Offensive deckt durch ihre Struktur und ihr Konzept zugleich die Flanken. Wenn eine Einheit "vorne" angegrifffen wird, können nachfolgende Einheiten sofort den flankierernden Angreifer selbst flankieren. Aufgrund des Mangels an Masse und der Schlammzeit / Unwegsamkeit des Geländes war dies im vorliegenden Fall so nicht möglich. Entsprechend hätte selbst die übliche sehr tiefe Aufstellung im Angriff nichts gebracht - bzw. sie produzierte lediglich ewig lange Staus entlang der Straßen ohne ihre Vorteile auszuspielen. Diese Vorteile versucht man von der untersten bis zur obersten Ebene immer gleich anzuwenden: folgende Einheiten rollen über die liegengebliebene vordere Einheit hinweg oder gehen über deren Flanken seitlich vorbei und greifen dabei flankierende Verteidiger. Genau deshalb vernachlässig die vordere Einheit auch ihren Flankenschutz, ist doch gemäß Doktrin für den Schutz ihrer Flanke die nachfolgende Einheit zuständig, was aber im vorliegenden Fall nicht gewährleistet war und ist.