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Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Druckversion

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RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Quintus Fabius - 06.06.2023

Die primäre Frage ist hier immer die der Distanz. Wenn ich MANPADS dabei habe oder SHORAD, aber der Feind agiert außerhalb der Reichweite dieser Systeme, spielt es keine Rolle ob ich eine Luftraumverteidigung dieser Art habe und gerade Kampfhubschrauber bzw. Hubschrauber mit Sensoren und Wirkmitteln sehr hoher Reichweite können leicht außerhalb der Reichweite solcher Nahbereichsverteidigung bleiben. Und umgekehrt fliegen sie zu niedrig und nutzen das Gelände so dass sie von Boden-Systemen höherer Reichweite nur schwer bekämpft werden können.

Das alles ändert sich aber schlagartig in dem Moment, in dem man selbst Kampfflugzeuge etc. in der Luft hat, gegenüber denen sich wiederum die Kampfhubschrauber nicht durch das Gelände verbergen können.

Dass es also zu solchen Videos kommt (ist nicht das erste und es gibt solche Filme auch von ukranischer Seite) liegt an den spezifischen Umständen in der Ukraine, insbesondere an dem Umstand, dass die russische Luftwaffe genau so wenig frei über dem Kampfraum agieren kann wie die ukrainische bzw. diesen sogar meiden muss und nur vom Rand / der Peripherie desselben her in diesen hinein wirken kann. Und genau das schafft solche Räume für Kampfhubschrauber et al und gerade in der Defensive - über eigenen Truppen also, können diese dann in der gezeigten Weise durchaus sehr wirksam werden.

Spezifisch für uns stellt sich aber die Frage, ob wir nicht stattdessen das Geld für Kampfhubschrauber lieber in noch mehr Kampfflugzeuge und vor allem in mehr Wirkmittel für diese und andere Luftsysteme welche die Kampfflugzeuge unterstützen investieren sollten. Denn damit negieren wir ja nicht nur feindliche Bodentruppen, könnten im Gegensatz zu Kampfhubschraubern auch in der Offensive und auch über feindlichen Truppen agieren, sondern wir negieren damit auch feindliche Kampfhubschrauber. Das vorliegende Video ist daher meiner Ansicht ein Plädoyer für mehr Luftmacht, in der Luft, und nicht für mehr bodengestützte Luftraumverteidigung, die man gegen Kampfhubschrauber und andere solche Systeme nicht in dem Maße braucht, wenn man selbst mehr Kampfflugzeuge hat. Flugzeuge können bodengestützte Luftraumverteidigung sehr weitgehend ersetzen. Diese sollte sich daher in gewissem Maße auf Ziele hin ausrichten, die eben nicht sinnvoll von Flugzeugen aus bekämpft werden können, dass reicht dann von Mini-Drohnen über C-RAM Aufgaben bis hin zu Marschflugkörpern / Raketen bestimmter Kategorien.

Die bodengestützte Luftraumverteidigung sollte daher (für uns) als eine Ergänzung der Luftwaffe verstanden werden. Diese kann wiederum flexibler und vielfältiger eingesetzt werden (gegen mehr und unterschiedlichere Ziele, offensiv wie defensiv, leichter strategisch / operativ verlegbar und dies schneller / über größere Distanzen. Sie sollte also der Entlastung der Lufteinheiten dienen und der Bekämpfung spezifischer Kategorien von Zielen für welche die Flugzeuge nicht sinnvoll sind. Gegen Kampfhubschrauber aber gibt es meiner Meinung nach nichts besseres als gerade eben ein Kampfflugzeug.


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Broensen - 06.06.2023

(06.06.2023, 11:56)Schlingel schrieb: https://funker530.com/video/russian-ka-52-alligator-stifles-ukrainian-assault-in-zaporizhzhia/

Andere Quellen stellen das als einen russischen Angriff auf die berüchtigte Traktoren-Brigade der Ukrainer dar.


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Schlingel - 07.06.2023

(06.06.2023, 21:06)lime schrieb: Die Videoqualität ist ja grottig. Davon ab stellt sich natürlich die Frage warum die Ukrainer nichts an Luftabwehr dabei haben. Genug bekommen haben sie ja eigentlich.

Das stimmt natürlich, viel zu erkennen ist dort nicht.
Ich habe die Qualität des Videos erstmal auf die vermutete Vergrößerung (Zoom) des Bildes geschoben, da der KA-52 (betrachtet man die Flugzeit der Luft / Boden Rakete) augenscheinlich von einer sehr großen Distanz aus agiert.
Da die Rakete nach dem auslösen aber doch recht schnell ins Bild kommt, lieg ich da wohl bei genauerer Betrachtung falsch, und die Bildqualität ist tatsächlich schlicht als grottig zu bezeichnen.
Ich kann nicht genau sagen, ob das was geliefert wurde
tatsächlich ausreicht um die Front flächendeckend zu unterstützen, vieles wird ja doch "stationär" verwendet um größere Städte oder wichtige Anlagen zu schützen.


(06.06.2023, 23:58)Broensen schrieb: Andere Quellen stellen das als einen russischen Angriff auf die berüchtigte Traktoren-Brigade der Ukrainer dar.


Das wäre natürlich sehr wünschenswert, wenn das ganze einen Fake / eine Falschinformation darstellt.
Aber eben weil meine Sympathien doch recht deutlich der ukrainischen Seite zuzuordnen sind, versuche ich immer, mich davon zu lösen und alle Informationen möglichst objektiv aufzunehmen. Während es natürlich viele offensichtliche Falschinformationen (von beiden Seiten, insbesondere aber von der russischen Seite) gibt, nehme ich einigermaßen realistische Darstellungen schnell für bare Münze.
Denn es gibt viele Stimmen, die jeglichen Erfolg des "Feindes" auf kreativste Art und Weise als Falschinformation "enttarnen" wollen. So schön es aber auch wäre wenn die Russen keine Erfolge erzielen würden, so ist es doch schlicht unrealistisch dies anzunehmen.
In diesem speziellen Fall will ich mich nicht festlegen, für ein klares Urteil erkennt man am Ende doch zu wenig.

Quintus:
Interessante Schlussfolgerungen "über den Tellerrand hinaus", ich wollte tatsächlich eigentlich darauf hinaus, dass jedliche größere mechanisierten Gruppe auf jeden Fall mit ausreichend mobiler Flugabwehr (und Luftaufklärung / Radar) auszustatten ist.
Die Distanz stellt natürlich in vielen Fällen ein Problem dar, aber dann muss man eben versuchen, die Lufthoheit soweit zu erreichen, dass ein Szenario wie im Video zu sehen nicht stattfinden kann. Klar wird es immer wieder Situationen geben, in welchen es schwierig wird richtig zu reagieren und eigene Verluste zu vermeiden.
Dennoch waren meine ersten Gedanken zu dem Video, dass es einfach nicht sein darf, dass der KA-52 dort in aller Seelenruhe in einiger Entfernung über den Baumwipfeln steht und Ziele bekämpft, als wäre es ein Scheibenschießen.
Zumindest müsste er zügig aufgeklärt und immerhin der Versuch unternommen werden, ihn zu bekämpfen.
Gut, dass das nicht stattgefunden hat ist dem Video nicht zu entnehmen, von daher Spekulation.

Auf die BW bezogen ist es ja sowieso etwas schwierig, konkrete Schlussfolgerungen aus dem Krieg in der Ukraine zu ziehen, immerhin hätte der Luftkrieg einen ganz anderen Stellenwert.
Dennoch wollte ich mit dem Video darauf hinaus, dass Fähigkeitslücken in der mobilen Flugabwehr schnellstens geschlossen werden sollten, denn neben der allgegenwärtigen Gefahr durch Drohnen gibt es dann doch auch noch andere Szenarien, auf die man vorbereitet sein sollte.


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Quintus Fabius - 07.06.2023

Schlingel:

Zitat:Dennoch waren meine ersten Gedanken zu dem Video, dass es einfach nicht sein darf, dass der KA-52 dort in aller Seelenruhe in einiger Entfernung über den Baumwipfeln steht und Ziele bekämpft, als wäre es ein Scheibenschießen.

Sieh dir westliches Filmmaterial beispielsweise aus dem Krieg gegen den Irak oder aus dem Krieg gegen Libyen an. Dass ist seitens unserer Kampfhubschrauber auch einfach nur Scheibenschießen. Das ist nicht untypisch.

Man muss dazu noch bedenken, dass natürlich primär immer nur die Erfolge gezeigt werden und je spektakulärer diese ausfallen, desto mehr werden sie verbreitet. Auch das verstellt das Bild auf die Kriegsführung und führt zu völlig falschen Schlußfolgerungen.

Beispielsweise haben wir hier jetzt 1 (in Worten EIN) Filmchen über einen erfolgreichen Kampfhubschraubereinsatz. Und das bei über einem Jahr Kriegsdauer. Nun könnte man wenn es tatsächlich nur dieses eine Filmchen wäre beispielsweise mit der gleichen Logik der Überhöhung dieses einen Filmes ebenso daraus schlußfolgern, dass Flugabwehr irrelevant ist, weil Kampfhubschrauber praktisch überhaupt keine Rolle spielen usw. Das wäre natürlich falsch, aber es wäre die gleiche grundsätzliche Logik, resultierend aus der Überhöhung dieses einen Films.

Die Lücken in der Luftraumverteidigung schließt aktuell die Luftwaffe. Die NATO Luftwaffen insgesamt würden den Himmel schon erstaunlich weitgehend füllen, auch wenn ich nicht derart davon eingenommen bin wie andere hier. Entsprechend muss bodengestützte Luftabwehr eine Ergänzung dieser Luftmacht darstellen.

Deiner Aussage dass es noch viele Gefahren gibt auf die man zu wenig vorbereitet ist möchte ich mich jedoch ausdrücklich anschließen. Die Schlußfolgerung daraus ist für mich, dass Systeme möglichts vielfältig einsetzbar sein müssen, dass man also Generalisten braucht die eine möglichst große Vielzahl an Zielen bekämpfen können. So dass man auf möglichst viele verschiedene Gefahren mit ein und demselben System hin reagieren / agieren kann.

Deshalb beispielsweise meine Ansichten zu Mittelkaliber-MK, zu Raketen die man gegen Luft- und Bodenziele gleichermaßen verwenden kann, zu Mehrzweckwerfern die verschiedene Raketen aus dem gleichen System abfeuern usw usw

Und es gab und gibt Versuche solche Systeme zu beschaffen. Ich will ein paar praktische reale Beispiele aufzeigen, damit vielleicht klarer wird worauf ich dabei hinaus will. Systeme wie beispielsweise:

http://www.military-today.com/artillery/draco.jpg

http://www.military-today.com/artillery/draco.htm

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/3/3b/ADATS_2008.JPG/1024px-ADATS_2008.JPG

https://en.wikipedia.org/wiki/Air_Defense_Anti-Tank_System

https://en.missilery.info/files/m/s.gurov/USA/MML/1.jpg

https://en.wikipedia.org/wiki/Multi-Mission_Launcher

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/0/05/CJOAX_fires_150417-A-BG594-015.jpg/1280px-CJOAX_fires_150417-A-BG594-015.jpg

https://en.wikipedia.org/wiki/Starstreak

Das sind jetzt nicht die Systeme welche ich rein persönlich beschaffen würde, sondern die gezeigten Systeme sollen nur mal verdeutlichen worauf ich hinaus will.

Jedes System sollte gegen verschiedene Ziele verwendbar sein, möglichst unterschiedlich verwendbar sein und gegen Boden- und Luftziele gleichermaßen verwendbar sein. Das ist die Idee dabei. Und meiner Meinung nach eine der Schlußfolgerungen aus dem Ukrainekrieg.

Nehmen wir beispielsweise das DRACO System: kann man gegen Bodenziele einsetzen und gegen Luftziele, auch auf größere Distanzen. Könnte aber auch als (leichte) Artillerie genutzt werden, wobei man dabei sogar Vulcano Munition abfeuern könnte. Eine größere Flächenwirkung kann aufgrund der höheren Kadenz der MK dann halt entsprechend durch einen Feuerstoß und damit durch eine größere Anzahl von Granaten erzielen (insofern notwendig). 8 km Reichweite gegen Luftziele.

Und genau damit würden dann solche Bilder von Kampfhubschraubern nicht mehr auftauchen, weil diese ja immer dadurch entstehen, dass die Kampfhubschrauber weiter entfernt sind als die MK der SHORAD Systeme des Panzerverbandes der da angegriffen wird hinreichen.

Man könnte mit einer solchen MK - spezifisch sogar schon mit diesem System - auch C-RAM Aufgaben ausführen, Top-Attack-Munition auf feindliche Panzerfahrzeuge abfeuern oder theoretisch sogar Einzelziele präzise bis auf 40 km artilleristisch bekämpfen usw.

Nun ist der gezeigte leichte Radpanzer nicht die Plattform welche hier vorziehen würde, deshalb schrieb ich ja explizit eben nur von einem Sinnbild für das was ich meine. Man könnte aber ein solches System auch recht problemlos auf einem gut geschützten Kettenfahrzeug realisieren.

Wenn sich dieser Gedanke, alle Systeme so aufzustellen dass sie möglichst vielfältig verwendet werden durch alle Systeme der Streitkraft hindurch ausbreitet, dann kann diese so vielfältig agieren, dass allein aus den dadurch entstehenden Kombinationen und Möglichkeiten der Feind überfordert oder völlig neue Vorgehensweisen desselben ebenso gekontert werden wie seine Standard-Prozedere.

Nehmen wir mal Drohnen: kleine militärische Drohnen (kein Billig-Zivilkram) könnten sowohl zur Aufklärung, als auch zugleich als Anti-Drohnen-Drohnen agieren, und entsprechend kleine feindliche Aufklärungsdrohnen angreifen und ausschalten. Mit entsprechendem Abstand agierende vollautonome Drohnenschwärme könnten im weiteren auch Kampfhubschrauber angehen. Sie könnten dazu auch landen und verdeckt einfach lauern bis ein entsprechender Sensor ihren Einsatz auslöst. Luftminen.

An dieser Stelle könnte ich übrigens anführen, dass es gegen Helis schon früher den Einsatz von Luftminen gab, und zwar sehr erfolgreich. Entsprechende Mehrzweck-Drohnenschwärme wären damit nur eine evolutionäre Weiterentwicklung dieses Prinzipes.

Ich hoffe das mit solchen Beispielen wie auch dem letztgenannten klarer wird was ich meine ?!


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Quintus Fabius - 24.06.2023

Der derzeitige Vorstoß von Wagner in Richtung Moskau scheint zu bestätigen was ich schon länger als These vertrete, nämlich dass die aktuellen Militär- und Sicherheitsstrukturen zu langsam sind wenn man selbst extrem schnell ist und dass man somit gleich mit dem Auftakt eines Konfliktes / Krieges mit extrem leichten, extrem schnellen und auch und insbesondere mit zivilen Fahrzeugen agierenden Truppen den Feind sozusagen überrennen kann bevor er überhaupt dazu kommt sich militärisch ernsthaft zu wehren. Eine neue Form von Blitzkrieg, zumal von geringen Kosten so dass selbst bei einem Scheitern eines solchen Husarenstückes eigentlich nichts verloren ist.


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Schneemann - 24.06.2023

Ich denke, dass hängt sehr stark vom Gegner ab. Generell würde ich mich auf diesen Ansatz nicht verlassen. Die russische Führung ist sehr unflexibel, die Kommunikation dürfte auch nicht die beste sein, und die regulären Truppen warten wohl vor allem auf Anweisungen von oben (die Eigeninitiative ist in der russischen Armee noch nie sonderlich stark ausgeprägt gewesen). Kommen diese nicht bzw. verzetteln sich die Vorgesetzten und flitzen dann eben plötzlich die Fahrzeuge des Gegners durch den Ort - wobei hier "Gegner" in gewisser Weise auch relativ ist -, dann kann ich mir gut vorstellen, dass irgendwelche lethargischen Einheiten schlicht panisch werden, überwechseln oder einfach die Waffen strecken.

Gibt da übrigens eine recht interessante Parallele: Den Vormarsch Yagües 1936 mit seinen Marokkanern im Spanischen Bürgerkrieg, als er völlig am konsternierten Gegner vorbei rund 500 Kilometer in einem Bogen entlang der Grenze zu Portugal nach Norden vorstieß, Navalmoral und Talavera nahm, tausende von Gefangenen machte und (von Westen kommend) auf Madrid vorstieß. Er vergrößerte innerhalb weniger Tage das Gebiet der Nationalisten um 40% und zwang die Republikaner, alles vor Madrid einzusetzen (konnte die Stadt allerdings nicht nehmen). Bekanntlich folgte nach diesem Blitzvorstoß ein fast dreijähriger Stellungskrieg.

Allerdings geht diese Rechnung, der flinke Vorstoß mit leichten Fahrzeugen, nur dann auf, wenn der Gegner überfordert, konsterniert, ggf. innerlich gespalten ist, die Kommunikationskette schlecht ist und wenn die Truppen von ebenso überforderten Offizieren geführt werden. Trifft das nicht zu, wird meine Technical-Offensive zum Fiasko. Insofern sehe ich hier keine neue Blitzkriegsstrategie, sondern eher eine unter bestimmten Bedingungen nutzbare und erfolgreiche Gelegenheitsstrategie.

Schneemann


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Quintus Fabius - 24.06.2023

Es geht primär nur um den Faktor Tempo im Bewegungskrieg - spezifisch im Kontext der heutigen Truppendichte - also der Menge der verfügbaren Truppen im Verhältnis zum Raum. Selbst große Armeen (von dem Verein hier bei uns fange ich da mal erst gar nicht an) haben nicht mehr ausreichend Einheiten um wirklich eine Front über lange Strecken so besetzen zu können, dass man da nicht mehr durchkommt und ist man durch, haben sie nicht ansatzweise nicht genug Einheiten um das Hinterland auseichend sichern zu können. Und gerade in der Anfangsphase eines Krieges steht noch überhaupt keine Front (weshalb die Russen beispielsweise überhaupt so weit vordringen konnten).

Die paar Bundeswehreinheiten welche einsatzbereit wären, würden genau wie die Russen jetzt viel zu lange brauchen um bei dieser Geschwindigkeit reagieren zu können. Der Feinde wäre also immer schon woanders wenn sie irgendwo ankommen würden. Sie wären auch zu wenige im Verhältnis zum Raum um irgend etwas halten zu können. Entsprechend würden sie sich auf die Absicherung einiger geringer Bereiche konzentrieren müssen, womit aber große Teile der kritischen Infrastruktur wie auch der Führungsstrukturen fallen würden.

Dieses Prinzip eines Krieges mit 100 km pro Stunde wie ich es nenne ist dabei keineswegs auf Technicals und zivile Fahrzeuge beschränkt. Das ist ja im Prinzip das was ich auch schon seit gefühlten Ewigkeiten in Bezug auf Panzerkavallerie, Panzerspäher usw. schreibe und ebenso auf luftbewegliche Einheiten.

Es ist die Kombination aus Reaktionsgeschwindigkeit, Truppenanzahl und Größe des Raumes, die den Krieg mit 100 km pro Stunde ermöglicht. Der Feind kollabiert dann ohne dass es überhaupt zu nennenswerten Kämpfen kommt.

Und machen wir uns nichts vor: die Bundeswehr ist genau so unfähig, langsam, befehlshörig und bräsig bürokratisch wie die Russen. Wir wären in absolut gar keiner Weise besser.


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Schneemann - 24.06.2023

Zitat:Es geht primär nur um den Faktor Tempo im Bewegungskrieg - spezifisch im Kontext der heutigen Truppendichte - also der Menge der verfügbaren Truppen im Verhältnis zum Raum.
Das ist ein interessanter Punkt. Und ich glaube, ich weiß, wie du es meinst. Da fällt mir als Bsp. - wenn auch nicht mit Fahrzeugen - der polnisch-russische Krieg ein: Quasi über 1.200 Kilometer Frontbreite hinweg führten beide Seite rasche Vorstöße aus (vorzugsweise mit der Kavallerie, in sehr geringem Umfang auch mit Zügen), die oftmals tiefe Einbrüche und schnelle Vorstöße über hunderte Kilometer hinweg ermöglichten.

Dabei war die Truppenstärke beider Seiten im Grunde sehr überschaubar (wohl im Peak 500.000 Mann je Seite, insgesamt dürften beide Seiten insgesamt ca. 1,8 Mio. mobilisierte Soldaten aufgeboten haben), d. h. je Seite "nur" rund eine halbe Million Soldaten focht in einem Gebiet, wo rund 20 Jahre später fast acht bis zehn Millionen gegeneinander antraten und wo es dann eine entsprechende Truppendichte gab. Diese enormen Leerräume 1919/20 ermöglichten aber genau jene durchaus imposanten Vorstöße mit agilen, leichten Einheiten (Kavallerie).
Zitat:Dieses Prinzip eines Krieges mit 100 km pro Stunde wie ich es nenne ist dabei keineswegs auf Technicals und zivile Fahrzeuge beschränkt. Das ist ja im Prinzip das was ich auch schon seit gefühlten Ewigkeiten in Bezug auf Panzerkavallerie, Panzerspäher usw. schreibe und ebenso auf luftbewegliche Einheiten.
Wobei das eine recht riskante Rechnung ist. Hat der Gegner, auch wenn er ggf. insgesamt wenig Truppen besitzt und das Hinterland nur sehr weitläufig eine Präsenz sieht, nur halbwegs eine vernünftige Luftwaffe und verteidigt feste Plätze auch nur im Ansatz entschlossen, wird der Plan nicht aufgehen. Die leichten Kräften wären unfähig, als Rammböcke zu agieren (das wäre auch nicht ihre Aufgabe), müssten also vor den Defensivpunkten ausweichen und diese umfahren, aber dann würden sie auf dem freien Feld von der Luftwaffe zu Paaren gejagt werden, das wäre ein fürchterliches Scheibenschießen. D. h. wirklich nur in sehr speziellen Fällen - keine Truppendichte, keine nennenswerte Luftwaffe, keine wirklich entschlossene Verteidigungsabsicht an festen Plätzen - geht der Plan tatsächlich auf.

Schneemann


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Quintus Fabius - 24.06.2023

Die Luftwaffe hat eine gewisse Anlaufgeschwindigkeit, sie kann also nicht ad hoc sofort überall in der Landesfläche zuschlagen. Man sieht das ja gerade im Moment in Russland selbst.

Das heißt, die Luftwaffe wird für eine solche Art der Kriegsführung erst nach einer gewissen Zeit ein Problem, nicht aber gleich zu Beginn. Im Idealfall steht man selbst auf dem Flugplatz bevor die Flugzeuge von dort auch nur in ausreichender Anzahl abgehoben haben.

Darüber hinaus führt ja nur ein kleiner Teil der eigenen Streitkräfte (RAIDER) diese Operation durch, während der Gros nicht so kämpft. Entsprechend verliert man wenig sollte es scheitern, aber man hat die Chance auf immense Erfolge gleich zu Beginn.

Primär geht es auch um allgegenwertige Präsenz und Zerstörung, also nicht darum damit etwas zu besetzen, entsprechend wird jede feindliche Stellung umgangen und gezielt die kritische Infrastruktur, insbesondere auch die zivile Infrastruktur angegriffen. Entsprechend benötigen diese Einheiten die Mittel dafür, insbesondere Unmengen von Sprengstoff.

Und noch ein Punkt dazu: in jedem Krieg werden wir höchstwahrscheinlich die Luftherrschaft erringen können. Entsprechend wird die feindliche Luftwaffe nicht so das Problem sein. Gerade aber die Kombination von solchen Raidern am Boden mit unserer eigenen Luftwaffe ist der wesentliche Punkt! Genau durch diese Kombination können beide Bereiche sich perfekt gegenseitig ergänzen.

Beispielsweise können Raider für entsprechende Luftraumverteidigung ein immenses Problem sein, wodurch diese erheblich darin behindert wird unsere Lufteinheiten zu bekämpfen, und umgekehrt können die Raider unsere Lufteinheiten als Feuerkraft abrufen und damit präziser und damit effizienter und effektivber einsetzen usw usf.


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Quintus Fabius - 02.07.2023

Über den Luftkrieg über der Ukraine:

https://warontherocks.com/2023/06/ukraine-and-lessons-learned-for-airpower-and-spacepower/

Zitat:This episode comes to you from Ramstein Air Base, where Ryan spoke with Gen. James Hecker of the U.S. Air Force and Air Marshall Johnny Stringer of the Royal Air Force about what we can learn from airpower and spacepower almost a year and a half into the war in Ukraine.



RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Schneemann - 22.07.2023

Eine sehr alte, zwar in den vergangenen Jahrzehnten angesichts der westlichen High-Tech-Systeme in der Berichterstattung (zumindest bei uns) mehr und mehr in den Hintergrund gerückte, aber eigentlich doch nie so ganz verdrängte Kriegskunst scheint im Rahmen des Ukrainekrieges wieder hoffähig zu werden - das Schanzen und der Stellungsbau bzw. der Schützengraben.

Und die National Guard in den Staaten übt neuerdings damit auch recht fleißig...
Zitat:Trench Warfare In Ukraine Casts Old School Army Training In Different Light

The Army’s trench warfare training may have seemed archaic in the past, but the war in Ukraine is serving as the latest reminder otherwise. [...]

Combat engineers from the Georgia Army National Guard recently built a trench line to help train new recruits. Though the U.S. Army uses trenches in training evolutions and exercises, at first glance doing so may look like a throwback to time gone by. Sadly, that is not the case. In fact, their significance can be viewed with chilling clarity given the very active use currently of fortifications like this by both sides of the conflict in Ukraine.

Pictures showing members of the Georgia Army National Guard's 177th Engineer Support Company (ESC) cutting the trench at Fort Moore have been circulating online in the past day. However, an official post on Facebook from the company's parent unit, the 878th Engineer Battalion, indicates that this happened in June. Georgia's Fort Moore, previously named Fort Benning, is one of five basic training hubs within the Army and is also home to the service's Infantry and Armor schools.

This particular trench was reportedly constructed to support so-called "First 100 Yards" training at Fort Moore. [...] It is perhaps not surprising that a trench is a part of the First 100 Yards. The name refers directly to troops leaving their trenches and beginning their advance across no-mans-land during World War I. [...] As the name of the First 100 Yards training program itself underscores, trenches remain heavily associated with World War I. This is something that popular media also continues to reinforce, including through films like 2019's 1917 and last year's new adaptation of the 1928 novel All Quiet on the Western Front. [...]

To this day, even relatively crude trenches can still provide some level of protection against direct and indirect fire, even from many modern artillery systems and other weapons. Clearing them can be extremely difficult and requires troops to engage in often especially brutal close-quarters combat.

Trenches have been obstacles to overcome or a way of protecting friendly forces, or both, in many major conflicts the U.S. military has been involved in since World War I. This includes Iraqi trench lines encountered in the First Gulf War and the U.S.-led invasion of Iraq in 2003, though in both instances they did little to slow down coalition forces.
https://www.thedrive.com/the-war-zone/trench-warfare-in-ukraine-casts-old-school-army-training-in-different-light

Ich muss dazu anmerken, dass ich das 2001 bei der Bundeswehr bei der Grundausbildung noch üben musste (ob das heute noch so ist, weiß ich leider nicht). Es war damals aber fester Teil der Ausbildung, selbsttätig (einzelne) Schützenlöcher und Stellungen für drei, vier Mann auszuheben. Und man darf das - wenn man kein schweres Gerät zugegen hat - nicht unterschätzen: Selbst auf einem Acker mit lockerer Erde (wobei hier der Schutz aber eher marginal ist) ist das schon eine sehr zähe und schweißtreibende Angelegenheit. Ist man an einem Waldrand, wo der Boden gesetzter und von Wurzeln durchzogen ist, ist das eine absolute Schinderei und man glaubt gar nicht, wie schwer es ist, da halbwegs ein Deckungsloch hinzubekommen...

Schneemann


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Pogu - 22.07.2023

Schweiß spart Blut.

Bei Winterfrost haben die Feldspaten nicht mal eine Schützenmulde ermöglicht, sie haben sich buchstäblich aufgerollt. Mit fachgerechtem Schanzwerkzeug war der Stellungsbau bei Winterfrost immer noch eine kraft- und zeitzehrende Aufgabe. Es geht selbstverständlich, aber eben nicht ohne weiteres.


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Schneemann - 22.07.2023

Zitat:Schweiß spart Blut..
Schanzen spart Blut.

Und Luftkrepierer, Baumkrepierer, Splittermunition und Schrapnelle hatten wir schon vor 100 Jahren (eigentlich schon früher). Es ändert sich also wenig, zumindest wenn man mal eine massive Luftmacht-Glocke darüber außen vor lässt... 

Schneemann


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - lime - 23.07.2023

(22.07.2023, 23:54)Schneemann schrieb: Schanzen spart Blut.

Und Luftkrepierer, Baumkrepierer, Splittermunition und Schrapnelle hatten wir schon vor 100 Jahren (eigentlich schon früher). Es ändert sich also wenig, zumindest wenn man mal eine massive Luftmacht-Glocke darüber außen vor lässt... 

Schneemann

Schanzroboter wären mal was  Cool


RE: Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Nightwatch - 23.07.2023

Auf alle 20m Schützengraben eine JDAM und gut ists.

Jede Lehre die aus dem Ukrainekrieg gezogen wird ohne Air Power mitzudenken kann nur falsch sein.